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       # taz.de -- Cherson nach der russischen Besatzung: „Hauptsache, keine Russen mehr“
       
       > Die russische Armee ist nicht mehr, die Menschen atmen vorsichtig auf. So
       > wie Diana, die sich wieder traut, Ukrainisch auf der Straße zu sprechen.
       
   IMG Bild: Aufatmen nach dem Ende der Besatzung
       
       Diana hat Glück. Ein Regenguss ist über Cherson niedergegangen, und sie hat
       es geschafft, 50 Liter Wasser in Eimern aufzufangen. Heute wird sie endlich
       ihre Haare waschen können. „Wenn es gut läuft, bleibt auch noch etwas für
       meinen Mann übrig“, sagt sie lachend.
       
       Seit drei Wochen gibt es in der Stadt kein Wasser [1][und keinen Strom].
       Deshalb funktioniert auch die Heizung nicht. „Während ich von meiner
       Wohnung aus mit Ihnen telefoniere, kann ich sehen, wie sich mein Atem in
       Dampf verwandelt“, sagt Diana. „Aber es ist gar nicht so schlimm. Ich bin
       bereit zu frieren und meine Haare auch noch acht Mal mit Regenwasser zu
       waschen. Hauptsache, hier sind keine Russen mehr.“
       
       Gerade wird der Mobilfunk in der Stadt wieder hergestellt, Diana ist froh,
       über das Erlebte sprechen zu können: „Das ist wie eine Therapie.“ Sie
       beginnt auf Russisch, wechselt aber schnell ins Ukrainische. „All die
       Monate hatte ich Angst, Ukrainisch zu sprechen. Was wohl passiert wäre,
       wenn das jemand auf der Straße gehört hätte.“
       
       [2][Der Beginn der russischen Invasion, die am 1. März zur Besetzung der
       Stadt führte,] war für alle ein Schock. Explosionen von der
       Antonowsky-Brücke in Cherson verbreiteten lähmende Angst. Diana erinnert
       sich, wie sie in Tränen ausbrach, als ihre Mutter ihr frische Milch und
       Quark durch die halbe Stadt brachte. Der Schock über die Besatzung wich
       alsbald Empörung. Wie Tausende andere Einwohner*innen von Cherson ging
       Diana mit einer ukrainischen Flagge auf die Straße. „Dieses Gefühl der
       Zusammengehörigkeit ist unvergesslich. Bei den Protesten selbst hatten wir
       nie Angst, nur wenn wir hin- und wieder weggingen. Wir dachten: Lieber hier
       sterben, als dass Russland für immer bleibt.“ Zu diesem Zeitpunkt
       funktionierte die Kommunikation noch, Diana konnte verfolgen, was im ganzen
       Land passierte.
       
       Mit der Zeit wurden die Kundgebungen immer gefährlicher. Überall
       Maschinengewehrfeuer und Blendgranaten. Die Jagd auf „Patrioten“ war
       eröffnet. Eine von Dianas Bekannten versuchte Informationen über die
       Verlegung russischer Ausrüstung an die Ukrainer weiterzugeben und wurde von
       den Russen gefangen genommen. Sie kehrte nach einer Woche zurück, nachdem
       sie in einem Video alles bereuen musste. Diana erzählte sie, dass sie nicht
       schlecht behandelt worden sei.
       
       Anderen Bekannten, die für die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden
       gearbeitet hatten, erging es nicht so gut. Sie wurden freigelassen, aber
       mit zerkratzten Gesichtern und gebrochenen Rippen. Das Misstrauen wuchs
       täglich. „Nur zwei meiner Bekannten haben offen erklärt, dass sie die
       Russen unterstützen. Aber man konnte sich nicht sicher sein, was andere
       dachten“, erinnert sich Diana. Sie selbst blieb tagelang in ihrer Wohnung,
       vermied unnötige Treffen. Manchmal, wenn sie es nicht mehr aushielt, trank
       sie an einem nahe gelegenen Kiosk einen Kaffee. Dann spürte sie die
       bohrenden Blicke von Fremden. Einige benahmen sich seltsam: „Wenn ich mal
       nicht alleine unterwegs war, sondern mit jemandem sprach, hatten diese
       Leute es eilig, mit uns Schritt zu halten. Nachdem sie uns überholt hatten,
       gingen sie langsamer, damit sie hören konnten, worüber wir redeten.
       Geheimdienstleute in zivil.“ Auf der Straße sprach Diana deshalb nur über
       neutrale Themen, „die Preise, die Sonne“.
       
       Diana kommt zugute, dass sie klein ist. „Früher habe ich darunter gelitten,
       aber während der Besatzung war das nützlich.“ Sie erinnert sich an eine
       Kundgebung: „Warum hat hier jemand ein Kind mitgenommen“, empörte sich eine
       Frau. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich sofort, als sie sah, dass sie
       eine Erwachsene, Diana, mit einem kleinen Mädchen verwechselt hatte.
       
       Während der Besatzung verging die Zeit wie im Schneckentempo. Die meisten
       Bekannten von Diana haben Cherson verlassen. Sie und ihr Mann sind
       geblieben – wegen ihrer Verwandten, die ihr Haus nicht zurücklassen wollen.
       „Das Schlimmste war die Einsicht, nichts ändern zu können. Nur eins wussten
       alle: Alles, was dir geblieben ist, ist der heutige Tag. Schon morgen
       können sie dir alles nehmen.“ Die Preise stiegen in astronomische Höhen.
       Die Einheimischen verkauften alles Mögliche auf den Straßen, nur um zu
       überleben. Diana kaufte sich „Kobzar“ – eine Gedichtsammlung des
       ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko. „Ich hatte große Angst,
       als ich das Buch nach Hause trug, und stellte mir vor, wie sie mich
       anhalten: „Aha, verbotene Literatur, mitkommen!“
       
       Ende Oktober fiel der Strom aus, auch die Kommunikation in der Stadt kam
       zum Erliegen. [3][Die Rückeroberung Chersons durch die ukrainischen Truppen
       überraschte alle.] „Wir haben gesehen, dass etwas passiert. Eines Nachts
       fuhren etwa 15 Lastwagen an unserem Haus vorbei. Sie kamen aus der
       Richtung, wo sich das Museum befindet, das, wie sich später herausstellte,
       von den Russen geplündert worden war. Aber wir wussten nichts.
       Einheimische, denen auf dem zentralen Platz schon die ersten ukrainischen
       Soldaten begegnet waren, sagten mir, dass das nur Partisanen wären“,
       erzählt Diana.
       
       Auch der [4][Besuch von Präsident Wolodimir Selenski] kurz darauf ist eine
       Überraschung. Für Diana begann jener Tag mit einem Missgeschick. Am Morgen
       warf sie sich eine ukrainische Flagge über die Schultern und klapperte die
       Krankenhäuser ab, um Blut für verwundete Soldaten zu spenden. Doch sie
       wurde abgewiesen – sie sei zu klein. Auf dem Nachhauseweg sah sie Soldaten,
       die einen Platz absperrten. Sie schlüpfte unter der Absperrung hindurch und
       erblickte plötzlich den Präsidenten. Erst später erfuhr sie, dass auch sie
       auf einem Foto von jenem Treffen zu sehen sei. „Das Foto habe ich noch
       nicht zu Gesicht bekommen, aber ich träume davon, alles bald im Internet
       sehen zu können.“
       
       Jetzt kann Diana wieder durch die Straßen laufen und Ukrainisch sprechen.
       Doch erst am vergangenen Donnerstag wurden unter russischem Beschuss sieben
       Menschen getötet. [5][Sicher ist es in Cherson noch nicht.] „Während die
       Stadt besetzt war, wusste ich genau, mit welchen Raketen und von wo aus die
       Russen andere ukrainische Städte beschossen“, sagt sie. Nun aber seien alle
       verunsichert, denn die Russen griffen Cherson weiterhin an, während
       ukrainische Soldaten das Gebiet entminten. „Immer wenn ich mein Handy in
       einem von Freunden zurückgelassenen Auto auflade, kommt eine Katze zu mir
       gelaufen, die ich füttere. Beim letzten Mal gab es in der Nähe drei
       Explosionen. Ich war alarmiert, beruhigte mich aber, als ich sah, dass sich
       die Katze nicht rührte. Erst als sie nach der vierten Explosion weglief,
       wurde mir klar, dass auch ich mich verstecken musste“, sagt Diana.
       
       Wie so viele hofft sie jetzt auf die Eröffnung einer neuen Post in ihrem
       Stadtbezirk. „[6][Viele Freunde sind weggefahren], um in der Westukraine
       erst einmal abzuwarten. Ich werde ihnen warme Kleidung schicken.“ Diana
       will auch weiter ihre „Großmütterrunde“ machen, dagebliebene Verwandte von
       Freunden besuchen. Eine von ihnen, eine Russin, habe Schwierigkeiten,
       Ukrainisch zu verstehen, sage aber, sie wünsche die Russen „zur Hölle“ für
       das, was sie in der Ukraine täten. Eine andere alte Frau, die zum ersten
       Mal bemerkt hat, dass ihr Mann fließend Ukrainisch spricht, nimmt jetzt
       abends bei ihm Unterricht. Cherson, einst eine überwiegend
       russischsprachige Stadt, wird nie wieder dieselbe sein.
       
       Aus dem Russischen von Barbara Oertel 
       
       Rostyslav Averchuk lebt in Lwiw. Er ist einer der Autor*innen der
       [7][Kolumne „Krieg und Frieden“]. Mit der Protagonistin Diana, die ihren
       Nachnamen nicht nennen möchte, sprach er am Telefon.
       
       27 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Rostyslav Averchuk
       
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