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       # taz.de -- Russische freiwillige Helfer in Georgien: Gegen die Schuldgefühle anhelfen
       
       > Russische Oppositionelle ziehen seit Kriegsbeginn vermehrt nach Georgien.
       > Viele von ihnen engagieren sich dort für ukrainische Geflüchtete.
       
   IMG Bild: Russinnen und Ukrainerinnen vereint: ein Wochenendkindergarten für Geflüchtete im Tblissi, Mai 2022
       
       Ein Mann mit leicht ergrauten Haaren und gerunzelter Stirn sieht sich
       unsicher um. „Ich bin wegen Medikamenten gekommen“, sagt er auf Ukrainisch,
       spricht dabei aber niemanden direkt an. Eine schwarzhaarige junge Frau mit
       einem bunten Pullover zuckt zusammen. Sie steht hinter einem Tisch auf,
       spricht kurz mit dem Mann, verschwindet dann für ein paar Minuten und kehrt
       mit einer Schachtel Medikamenten zurück.
       
       Die Szene spielt sich in dem Freiwilligenzentrum „Emigration for Action“ in
       der Altstadt von Tbilissi ab, der Hauptstadt Georgiens. Das Zentrum wurde
       im April dieses Jahres von russischen Migrant*innen gegründet. Seitdem
       werden hier Medikamente an ukrainische Flüchtlinge verteilt, von denen es
       inzwischen über 35.000 in Georgien gibt.
       
       Die junge Frau heißt Amelija und ist 22 Jahre alt. Ihren Nachnamen und
       weitere Details aus ihrem Leben möchte sie lieber für sich behalten.
       Amelija ist erst vor ein paar Monaten aus Moskau zu ihrem Freund nach
       Georgien gekommen. Für das Zentrum arbeitet sie noch nicht lange, heute ist
       erst ihr fünfter oder sechster Tag. Ihre Aufgabe ist es, Rezepte
       entgegenzunehmen und dann die Medikamente zu verteilen.
       
       Amelija erzählt, dass sie jeden Tag von Gedanken an den Krieg in der
       Ukraine verfolgt werde. „Es ist unmöglich, in Frieden zu leben und so
       unbeschwert wie sonst zu sein, solange das dort alles passiert“, sagt sie.
       
       ## Hätte ich den Krieg verhindern können?
       
       Wie weiterleben, wenn deine Regierung ein Aggressor ist und dir das ständig
       vorgeworfen wird? Diese Frage stellen sich heute viele Russ*innen, die aus
       ihrer Heimat geflohen sind, nachdem Wladimir Putin die Ukraine angegriffen
       hat. Amelija erinnert sich, dass sie viel Zeit damit verbracht hat, darüber
       nachzudenken, ob sie etwas hätte ändern und den Krieg verhindern können.
       Aber jetzt ist es ihr schon „egal, ob ich schuld bin oder nicht. Ich muss
       einfach weitermachen und alles tun, was in meinen Kräften steht.“
       
       Laut ihrem Monatsbericht hat die Organisation „Emigration for Action“
       bereits fast 3.800 ukrainischen Bürger*innen geholfen. Etwa 60
       Freiwillige arbeiten im Zentrum. Die Medikamente werden ausschließlich mit
       Spendengeldern gekauft. Allein in der vorvergangenen Woche wurden mehr als
       20.000 Euro gesammelt.
       
       Einer der Gründer des Zentrums, der 23-jährige Moskauer Ewgeni Schukow,
       erzählt, die Idee sei anfangs gewesen, Medikamente in Georgien zu kaufen
       und in die Ukraine zu schicken. Doch das habe sich als zu teuer erwiesen.
       Zu den begehrtesten Arzneien zählen: Medikamente gegen
       Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Antidepressiva.
       
       Neben der Ausgabe von Medikamenten bieten die Freiwilligen hier auch eine
       erste psychologische Unterstützung an und helfen dabei, weitere
       Komplikationen durch belastende Erlebnisse zu vermeiden. „Aber das ist
       keine Therapie“, erläutert Ewgeni. „Wir lassen die Person einfach sprechen.
       Wenn wir sie nicht stabilisieren können, vermitteln wir sie weiter an einen
       Krisenpsychologen.“
       
       ## Drei Prozent Russ*innen
       
       Jetzt, nach sechs Monaten, hat sich Ewgeni schon daran gewöhnt, mit
       Ukrainer*innen zu reden. Doch am Anfang war das schwierig. „Du wirst
       gefragt, wo du her seist. Ich sage dann: Aus Russland … Dann erst mal für
       drei Sekunden ein peinliches Schweigen … Jetzt mache ich einfach nur noch
       meinen Job“, sagt er. Wie fühlt er sich, wenn so viele Ukrainer*innen
       hilfesuchend zu ihm kommen? Pause. „Ich fühle, dass ich weitermachen muss.
       Und dass das eine wichtige Sache ist. Andere Motive habe ich nicht“,
       antwortet Ewgeni langsam.
       
       Schon vor Beginn des russischen Angriffskrieges war Georgien ein
       bevorzugter Ort für all jene Russ*innen, die mit dem Putin-Regime nicht
       einverstanden waren.
       
       Angaben des georgischen Innenministerium vom 3. Oktober zufolge sind seit
       dem 24. Februar 2022 [1][mehr als 122.000 Russ*innen in die
       Südkaukasusrepublik] gekommen. Das sind [2][mehr als 3 Prozent] der
       Gesamtbevölkerung Georgiens.
       
       In den vergangenen acht Monaten fanden in Georgien mehrmals Proteste statt,
       bei denen die Einführung eines Visaregimes für Russ*innen oder sogar die
       Schließung der Grenze gefordert wurde. In Tbilissi tauchten an Häuserwänden
       Hunderte Graffitis auf, die die [3][Russ*innen dazu aufforderten, nach
       Hause zurückzukehren]. Laut einer soziologischen Umfrage der
       US-Organisation International Republican Institute (IRI) vom September sind
       78 Prozent der Bevölkerung dagegen, Russ*innen ohne Visum ins Land zu
       lassen. Doch die georgische Regierung sieht das anders.
       
       ## Verdreifachte Wohnungsmieten
       
       Vor einigen Wochen sagte Ministerpräsident Irakli Gharibaschwili, dass
       Georgien mit einem Wirtschaftswachstum von 10,2 Prozent in diesem Jahr an
       „der Spitze aller europäischen Länder“ liege. Allerdings verschwieg er den
       Preis, den die vulnerabelsten Schichten der Gesellschaft für dieses
       Wachstum zahlen. So haben sich die Wohnungsmieten fast verdreifacht, was
       viele Studierende aus den Regionen daran gehindert hat, zum Herbstsemester
       nach Tbilissi zurückzukehren.
       
       Für die Mehrheit der Bevölkerung geht es jedoch nicht nur um die
       Wirtschaft. Nach einem fünftägigen Krieg im August 2008 besetzte Russland
       20 Prozent des georgischen Territoriums und erkannte die Unabhängigkeit der
       abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien an.
       
       Ewgeni versteht, warum er und andere aufgefordert werden, nach Russland
       zurückzugehen. Aber dann erzählt er, dass er fünf Jahre lang politisch
       aktiv gewesen sei, er und viele andere jetzt aber nichts mehr ändern
       könnten. „Wenn sich in Russland etwas ändert, dann nur von oben“, sagt er.
       
       „Emigration for action“ ist nicht die einzige Freiwilligen-Initiative
       russischer Migrant*innen zur Unterstützung ukrainischer Geflüchteter.
       Nach dem 24. Februar wurden gleich mehrere von ihnen gegründet. Zum
       Beispiel „Choose to help“ – ein Organisation, die ebenfalls Geld sammelt
       und dafür Müsli, Hygieneartikel sowie Waschmittel kauft. Jede Woche kommen
       ukrainische Flüchtlinge hierher. Die Ausgabestelle befindet sich in einem
       Einkaufszentrum am Stadtrand von Tbilissi. Freiwillige sagen, der Besitzer
       habe ihnen den Platz kostenlos zur Verfügung gestellt.
       
       ## 1.400 Kilometer quer durch Russland
       
       Nastja Saretskowa, 32 Jahre alt, hat in Moskau als Managerin im Bauwesen
       gearbeitet. Diese Fähigkeiten kommen ihr hier sehr zugute. „Meine Aufgabe
       ist es, zu kontrollieren, dass niemand etwas vergessen hat. Und ich erkläre
       den Anfänger*innen, was sie tun sollen.“
       
       Nastja Saretskowa ist im Mai nach Georgien gekommen. Seit fünf Monaten
       verbingt sie jede Woche 40 Stunden in dem Zentrum und kann sich kaum
       vorstellen, etwas anderes zu machen. Sie zeigt ein großes Journal, in dem
       bereits über 8.000 Hilfeempfänger*innen verzeichnet sind.
       
       20 bis 25 Mitarbeiter*innen sind immer hier – darunter auch
       ukrainische Geflüchtete. Ljudmila ist 65 Jahre alt und stammt aus Cherson.
       Ihren Nachnamen will sie nicht nennen. Sie und ihr Mann sind Ende August in
       Georgien angekommen, dafür mussten sie, quer durch Russland, über 1.400
       Kilometer zurücklegen.
       
       „Irgendwie lustig“, sagt sie, „jetzt bin ich in Sicherheit, aber das macht
       alles nur noch schlimmer.“ Sie möchte so bald wie möglich wieder nach
       Cherson zurückkehren. Wie steht sie zu den Russ*innen? „Kommt drauf an,
       welche“, sagt Ljudmila. Sie ist dankbar für die Hilfe, werde aber jenen
       Russ*innen, die die Aggression unterstützen oder schweigen, „nie vergeben“.
       Denn die hätten immer noch die Wahl. „Wissen Sie, wo ein Mensch keine Wahl
       mehr hat? Auf dem Friedhof.“
       
       Ist die Freiwilligenarbeit vielleicht ein Versuch, die Handlungen der
       russischen Regierung zu rechtfertigen? „Nein“, antwortet Nastja Saretskowa.
       „Ich mache das nicht, weil ich Russin bin.“
       
       Fast dasselbe sagt auch Amelija. Für sie sind die Graffitis in Tbilissi
       „eine erwartbare Reaktion“ und sie versteht, warum viele Georgier*innen
       sie hier nicht sehen wollen. Aber das ist nicht der Punkt. „Für diejenigen,
       die beweisen müssen, dass nicht alle Russ*innen schlecht sind, ist es
       unmöglich, das zu tun“, sagt Amelija. „Dass wir normale Menschen sind,
       müssen wir vielleicht zuerst uns selbst beweisen.“
       
       28 Nov 2022
       
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   DIR Sandro Gvindadze
       
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