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       # taz.de -- Proteste in China: „Nieder mit Xi Jinping!“
       
       > In Schanghai und anderen Städten zieht es so viele auf die Straße wie
       > seit Jahrzehnten nicht. Gefordert wird ein Ende von „Null Covid“ – und
       > mehr.
       
   IMG Bild: Bild von den nächtlichen Protesten in Schanghai, 27. November
       
       Peking taz | In der Nacht auf Sonntag haben sich die Chinesen von den
       Fesseln der drakonischen Null-Covid-Politik befreit. In Schanghai sind bis
       in die frühen Morgenstunden mehrere hundert Menschen auf die
       Wulumuqi-Straße in der [1][ehemals französischen Konzession], dem
       historischen Teil der Stadt, gezogen. Dort haben sie ihrem Frust gegenüber
       der Regierung lauthals freien Lauf gelassen: „Nieder mit Xi Jinping!“,
       schrie die Menschenmenge, und immer wieder: „Nieder mit der Partei!“ In
       einem Land, in dem die Leute den Namen ihres mächtigen Landesvorsitzenden
       nur im Flüsterton auszusprechen wagen, sind solche Proteste nicht nur
       mutig, sondern auch überaus gefährlich.
       
       Doch immer mehr Chinesen haben das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu
       stehen. Ausgezehrt nach zweieinhalb Jahren Pandemie wollen sie die rigiden
       Einschränkungen der Null-Covid-Politik nicht mehr hinnehmen. Der
       Coronafrust hat dazu geführt, dass erstmals seit mehreren Jahrzehnten in
       fast allen Landesteilen die Menschen auf die Straße ziehen: von Guangzhou
       über Wuhan bis nach Zhengzhou.
       
       Und auch im Campus der altehrwürdigen Tsinghua-Universität in Peking,
       immerhin der Alma Mater von Xi Jinping, haben sich unzählige Studierende
       vor einer Mensa versammelt. In geschlossener Einigkeit halten sie leere
       DIN-A4-Blätter in die Luft. Das Ungeschriebene, was die jungen Chinesen
       aufgrund der staatlichen Repressionen sich nicht zu äußern wagen, ist
       längst zum Symbol für eine tief ersehnte Meinungsfreiheit geworden. „Wenn
       wir uns aus Angst nicht zu Wort melden, enttäuschen wir unser Volk. Als
       [2][Tsinghua-Studentin] würde ich dies für den Rest meines Lebens bereuen“,
       hört man in einem Onlinevideo eine Frau mit zittriger Stimme sagen. Die
       Menge entgegnet ihr jubelnd: „Habe keine Angst!“
       
       Denn trotz der drohenden Verhaftungen spüren viele junge Chinesen, dass sie
       nicht mehr länger schweigen können. Ausgelöst hat die landesweite Wut eine
       tragische, jedoch menschengemachte Katastrophe: In der nordwestchinesischen
       Stadt Ürümqi sind am Donnerstagabend bei einem Wohnungsbrand im 15. Stock
       eines Wohnhauses mindestens zehn Menschen ums Leben gekommen. Auf sozialen
       Medien kritisierten mehrere Anwohner, dass die Notausgänge verschlossen
       gewesen seien und die Feuerwehrwagen aufgrund der Metallgitter,
       Eisenschlösser und Ausgangssperren quälend lange brauchten, um den
       Unglücksort zu erreichen.
       
       ## Suizide
       
       Hätten die Toten verhindert werden können? Es wäre nicht das erste Mal,
       dass die exzessiven Lockdowns Menschenleben kosten würden: Fast täglich
       verbreiten sich auf Chinas sozialen Medien Smartphonevideos, die Menschen
       zeigen, die nach Wochen, manchmal Monaten des Eingesperrtseins verzweifelt
       von ihren Dächern in den Tod springen. Zu Beginn des Monats musste eine
       Frau den Suizid ihrer 55-jährigen Mutter in der nordchinesischen Stadt
       Hohot mit ansehen: Sie wollte rettend zur Hilfe eilen, doch wurde nicht in
       das abgesperrte Gebäude gelassen.
       
       Wer auf Twitter oder anderen internationalen Onlineplattformen unterwegs
       ist, bekommt die traurigen Schattenseiten der chinesischen Coronapolitik
       zuhauf mit. Wer lediglich die staatlich kontrollierten Medien konsumiert,
       kann sich kaum ein realistisches Bild machen: Zu akribisch sind die
       Zensoren am Werk, die keine Negativmeldungen tolerieren. Doch wie sich
       jetzt zeigt, funktionieren die Repressionen nur bis zu einem gewissen Grad:
       Wenn man den Volkszorn als kochendes Wasser versteht, kann der Staat nicht
       endlos lange seinen autoritären Deckel draufschieben. Irgendwann schäumt es
       über.
       
       Dabei schien sich das Ende der Null-Covid-Maßnahmen auch vor den Protesten
       vom Wochenende bereits anzubahnen. Denn trotz der rigiden Maßnahmen steigen
       die Coronazahlen in China immer weiter an. Am Sonntag hat die nationale
       Gesundheitskommission mit über 39.000 Fällen den vierten Tag in Folge den
       höchsten Wert seit Beginn der Pandemie registriert. Und jede einzelne
       Ansteckung führt bislang dazu, dass ganze Wohnsiedlungen abgeriegelt werden
       und etliche Menschen unter Zwang in Quarantäne-Lager transferiert werden.
       
       Die Auswirkungen jener Politik lassen sich dieser Tage auch im
       wirtschaftlich wohlhabenden Peking eindrücklich beobachten: Das politische
       Machtzentrum des Landes wirkt derzeit wie eine einzige Geisterstadt. Nur
       mehr die Supermärkte haben geöffnet, und die wenigen Menschen auf der
       Straße stehen meist vor den unzähligen PCR-Teststationen an. Selbst in
       Sanlitun, das mit seinen Flagship-Stores und hippen Cocktailbars das
       vielleicht internationalste Vergnügungsviertel der Hauptstadt ist, haben
       die Behörden unlängst auf einem Parkplatz 16 weiße Containerkabinen
       platziert: Dort sollen die Corona-Infizierten der Gegend untergebracht
       werden – ganz gleich ob sie Symptome haben oder nicht.
       
       ## Gemeinsam
       
       Doch am Wochenende haben sich unzählige Pekinger trotz der anhaltenden
       Restriktionen ihren Weg in die Freiheit sprichwörtlich erkämpft, wie das
       Beispiel einer abgeriegelten Wohnanlage im Bezirk Chaoyang am Sonntag
       zeigt: Dutzende Bewohner haben sich über ihre WeChat-App mobilisiert und
       zur Mittagsstunde in der Lobby verabredet. „Gemeinsam sind wir stark“,
       schreiben sich die Bewohner in ihrer Chat-Gruppe Mut zu.
       
       Und in der Tat kneifen sie nicht: Die Barrikaden, welche die Mitglieder des
       Nachbarschaftskommitees und das Gesundheitspersonal in ihren weißen
       Seuchenschutzanzügen aufgestellt haben, ignorieren die Nachbarn schlicht.
       Mit dem Hinweis, dass sie ohne rechtsstaatliche Grundlage eingesperrt
       werden, schreiten sie selbstbewussten Schrittes auf die Straße hinaus –
       offenbar selbst darüber erstaunt, dass die staatlichen Autoritäten nicht
       eingegriffen haben. Doch wie es scheint, sind auch die Sicherheitskräfte
       von zweieinhalb Jahren Einsatz gegen die Pandemie zermürbt – und können den
       Frust der Menschen durchaus verstehen. Nach gewonnenem Kampf gegen die
       Mühlen der Bürokratie sagt der Gruppenführer der Anwohner stolz: „Freiheit
       ist ein kostbares Gut!“ Und dieses wollen sich immer weniger Chinesen
       nehmen lassen. Das Wochenende wird wohl zweifelsohne als Anfang vom Ende
       der Null-Covid-Politik in die Geschichtsbücher eingehen: Erstmals haben
       sich unzählige Chinesen den rigiden Lockdown-Maßnahmen der Behörden
       widersetzt.
       
       Doch viele junge Chinesen, insbesondere die Demonstranten in Schanghai,
       werden sich nicht mit einer einfachen Lockerung der Coronapolitik abspeisen
       lassen. Denn diese ist lediglich die Manifestation einer gesellschaftlichen
       Entwicklung, die unter Xi Jinping bereits seit Jahren zu beobachten war:
       China ist zunehmend repressiv, international isoliert und zu einem
       Überwachungsstaat geworden. Für manche Demonstranten waren die
       Lockdown-Toten von Ürümqi nur der Funke, an welchem sich die Proteste
       entzündet haben. Doch ihr Wunsch nach einer anderen, freieren Gesellschaft
       reicht darüber hinaus.
       
       Wenig überraschend schlägt am Sonntag die Staatsgewalt in Schanghai am
       härtesten zurück. Die Wulumuqi-Straße, wo noch vor wenigen Stunden die
       Leute den Fall der Regierung forderten, ist nun weiträumig von der Polizei
       abgesperrt worden – auch in sämtlichen umliegenden Plätzen haben die
       Ordnungshüter vorsorglich Metallzäune aufgestellt.
       
       ## Courage
       
       Dennoch sind die – diesmal stillen – Demonstranten zu Hunderten wieder
       zurückgekehrt, viele von ihnen mit Gedenkblumen in den Händen. Einige
       Personen wurden noch am helllichten Tag von den Polizisten abgeführt, in
       den Abendstunden hat sich bereits ein ganzer Polizeibus mit Verhafteten
       gefüllt. Dennoch gehen die restlichen Menschen nicht fort, sondern harren
       weiterhin aus.
       
       Wie historisch ihre Courage ist, werden viele Landsleute gar nicht
       mitbekommen. Im chinesischen Internet haben die Zensoren bereits sämtliche
       Videoaufnahmen aus Schanghai gelöscht. Doch diejenigen, die am Sonntag vor
       Ort waren, werden die Ereignisse wohl ihr Leben lang nicht mehr vergessen.
       
       27 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://smile4travel.de/asien/6-gruende-warum-ich-das-leben-in-shanghais-former-french-concession-liebe/
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=R9s3bKYXjN8
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Kretschmer
       
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