# taz.de -- Hungerkatastrophe Holodomor in Ukraine: Einstufung als Genozid rückt näher
> Ampelkoalition und Union wollen die Hungersnot, der Millionen
> Ukrainer:innen zum Opfer fielen, als Völkermord anerkennen. Das ist
> umstritten.
IMG Bild: Der Antrag „Holodomor in der Ukraine: Erinnern – Gedenken – Mahnen“ hat hier eine Mehrheit
Berlin taz | Der Bundestag wird [1][die Hungerkatastrophe in der Ukraine
1930 bis 1933] als Völkermord einordnen. So steht es in dem von SPD, Union,
Grünen und FDP verfassten Antrag „Holodomor in der Ukraine: Erinnern –
Gedenken – Mahnen“. Die Mehrheit für den Antrag ist sicher. Initiiert haben
ihn der Grüne Robin Wagener, Dietmar Nietan (SPD), Ulrich Lechte (FDP) und
Knut Abraham (CDU). Die Einigung auf den Antrag kam kurz vor dem 90.
Jahrestag des Holodomor zustande, der am 26. November in der Ukraine
begangen wurde.
Die vier Fraktionen unterstützen damit die Sicht der Ukraine, die seit
Langem fordert, den Holodomor als Genozid einzustufen. „Einseitige
russische historische Narrative“ werden in dem Antrag scharf
zurückgewiesen. Die Bundesregierung soll Bildungsangebote schaffen, um
Wissen über Stalins repressive Zwangskollektivierung weiterzuverbreiten.
Zudem soll die Regierung „die Ukraine als Opfer der imperialistischen
Politik Wladimir Putins weiterhin politisch, finanziell, humanitär und
militärisch unterstützen“.
Die Kernsätze des Antrags lauten: „Betroffen von Hunger und Repressionen
war die gesamte Ukraine, nicht nur deren getreideproduzierende Regionen.
Damit liegt aus heutiger Perspektive eine historisch-politische Einordnung
als Völkermord nahe. Der Deutsche Bundestag teilt eine solche Einordnung.“
Der Bundestag bezeichnet den Holodomor damit als Völkermord, auch wenn die
Formulierung etwas distanziert klingt. [2][Völkermord ist ein mehrdeutiger
Begriff]. Er ist seit 1948 eine Straftat im Völkerstrafrecht, aber auch
eine historische Kategorisierung, etwa in Abgrenzung zu Massenmorden und
Pogromen, und ein politischer Begriff. Das Spezifische des Begriffs
Völkermord – Genozid ist ein Synonym – ist, dass er eine Straftat ist, für
die keine Verjährung vorgesehen ist.
Virulent wurde dies bei den [3][Verhandlungen über die von Deutschen 1904
bis 1908 verübten Mordaktionen an Herero und Nama]. Die Bundesregierung
erkannte in dem Vertrag 2021 das Geschehen als Völkermord an, zahlt
freiwillig über 30 Jahre 1,1 Milliarden Euro an Namibia, ohne allerdings
Entschädigungsverpflichtungen zu akzeptieren.
Den Holodomor haben bislang 15 Staaten als Genozid anerkannt, [4][halb so
viele wie den Mord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915]. Auch das
EU-Parlament war 2008 zurückhaltend mit dem Begriff. Es handele sich um
„ein schreckliches Verbrechen am ukrainischen Volk und gegen die
Menschlichkeit“, die Bezeichnung Genozid fehlt.
Laut der Definition von 1948 ist Genozid der Versuch, „eine nationale,
ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise
zu zerstören“. Dieser Definition zufolge [5][spielt das Ausmaß des
Verbrechens, die Zahl der Opfer, eine untergeordnete Rolle]. Entscheidend
ist, dass die Täter planvoll (und nicht nur situativ) eine der genannten
Gruppen vernichten wollen. Das trifft für die Verfolgung der Juden nach
1933 ebenso zu wie für die der Armenier 1915 und der Tutsi in Ruanda 1994.
Im Fall der Ukraine 1932 gehen die Meinungen auseinander. Das Ausmaß der
Zerstörung ist unstrittig. Doch kann von einer geplanten und gezielten
Vernichtung der Ukrainer als Ethnie die Rede sein? Manche Historiker halten
dies für die Spätphase des Terrors gegen die Kulaken 1933 für gegeben.
Andere bezweifeln hingegen, ob von einem Genozid gesprochen werden kann,
weil der Vernichtungsvorsatz gegen eine ethnische Gruppe fehle. Im Antrag
des Bundestags heißt es, dass „die massenhafte Tötung durch Hunger auch auf
die politische Unterdrückung des ukrainischen Nationalbewusstseins“ zielte.
30 Nov 2022
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## AUTOREN
DIR Stefan Reinecke
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