# taz.de -- Als George Grosz in die UdSSR reiste: Der Splitter im Auge
> Der Künstler George Grosz war in der KPD und reiste 1922 in die
> Sowjetunion. Eine Berliner Ausstellung geht der Sache nach.
IMG Bild: Die Reise in die Sowjetunion ernüchterte ihn später: „Revolution“, 1925 von Grosz (Ausschnitt)
George Grosz reiste 1922 in die junge Sowjetunion. Der Maler und
Karikaturist war zu dieser Zeit bereits als einer der schärfsten Kritiker
der reaktionären und bourgeoisen Kreise der Weimarer Republik bekannt.
Grosz gehörte zudem zu den ersten Mitgliedern der infolge der
Novemberrevolution 1918/19 gegründeten KPD.
Drei Jahre danach ging es also in das verheißene Land, in der die
proletarische Revolution geglückt war. Grosz reiste für fast ein halbes
Jahr mit dem Schriftsteller Martin Anderson Nexö („Pelle der Eroberer“),
ebenfalls Kommunist. Ein Buch sollte daraus entstehen, Text von Nexö,
Illustrationen von Grosz. Grosz traf allerlei Prominenz aus dem jungen
Sowjetreich, Lenin, Trotzki, Radek, Lunatscharski und etliche andere
Funktionäre. Auf dem 4. [1][Komintern Weltkongress], an dem Grosz teilnahm,
waren sie alle beisammen. Es gab auch Begegnungen mit [2][russischen
Künstlern]. Gesichert ist ein Besuch beim Konstruktivisten und
Maschinenkünstler Tatlin, dessen Kunst Grosz übrigens nicht besonders
schätzte.
## Hat Grosz dort Bilder gemalt?
Doch das geplante Buch kam nie zustande. Grosz hatte auf der Hinreise in
Norwegen, wo man lange auf Papiere zur Einreise in die SU warten musste,
noch skizziert und gezeichnet. Danach sind keine Bildwerke von Grosz aus
dem Sowjetreich bekannt. Warum? Hat Grosz überhaupt Bilder angefertigt?
Wurden sie vernichtet? Wenn ja, von wem?
Solchen Fragen widmet sich Das Kleine Grosz Museum in Berlin. Die aktuelle
Schau dort zeigt auf kleinem Raum eine große Menge von Zeichnungen, Büchern
und Fotos aus dem Umfeld der Reise, dazu allein rund 100 Werke von Grosz.
Es ist der Versuch zu klären, was vor, während und nach der Russlandreise
passiert ist.
## Es ist dreckig und verlaust
Grosz hat sich in seiner Autobiografie („Ein kleines Ja und ein großes
Nein“) ziemlich abfällig über das vermeintliche Sowjetparadies geäußert:
Der Alltag sei „dreckig und verlaust, die allermeisten Leute ärmlich und
ungebildet und die Funktionäre verschlagen und unaufrichtig“. Kurz: Das
Land sei „in einem für westeuropäische Begriffe schrecklichen Verfall“,
urteilte er gut 24 Jahre später. Dieses Russland‑Kapitel fehlt allerdings
in der amerikanischen Erstausgabe von 1946 noch und wurde erst 1953
veröffentlicht.
Es könnte sein, dass die Russlandreise, von der viele dubiose Gerüchte im
Umlauf sind (nicht allem auf Wikipedia glauben!), der Beginn des
Kommunisten Grosz ist, sich vom Kommunismus zu distanzieren. Davon ist
allerdings seinen Bildwerken bis zur Emigration in die USA 1933 so gut wie
nichts anzumerken. In den 1920ern publizierte Grosz weiter
[3][Zeitschriftenkarikaturen oder Mappenwerke im Berliner Malik Verlag], wo
auch das Russlandbuch hätte erscheinen sollen. Er machte weiter Kunst im
Sinne des Klassenkampfes im Bunde mit den Brüdern Wieland und Helmut
Herzfelde (alias John Heartfield) – wenngleich nicht direkt auf Parteilinie
der KPD.
Die Ausstellung endet mit einer Zeichnung von 1953 (sechs Jahre vor Grosz'
Tod), wie man sie von ihm ähnlich aus der Weimarer Republik kennt. Doch
statt Bourgeoisie, [4][Konterrevolution] und deutschen Spießern ist nun ein
stiernackiger Sowjetoffizier in langem Mantel und dicken Stiefeln Ziel des
Spotts. Die Figur reicht einer ausgemergelten Gestalt eine Flasche Wodka.
## Wahrheit ist ein Vorurteil
In der erwähnten Autobiographie bekennt Grosz, der einstige Star der
radikalen Linken (nicht nur in Deutschland), dass er bei der Russlandreise
seinen „Splitter im Auge“ nicht los wurde. Grosz hielt sich damals lieber
an die Maxime: „Die Wahrheit (…) ist nach Lenin ein bürgerliches Vorurteil
und damit für einen gläubigen Genossen endgültig abgeschafft.“ Diese
Denkart gilt für manche heutige Zeitgenossen ja wohl noch immer.
So ist die detaillierte Aufarbeitung im [5][Kleinen Grosz Museum] mit
eigens durchgeführten Recherchen des Kunsthistorikers Christian Hufen in
russischen Archiven ein echtes Aufklärungsprojekt. Grosz’ künstlerischem
Genie tut das keinen Abbruch.
2 Dec 2022
## LINKS
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## AUTOREN
DIR Ronald Berg
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