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       # taz.de -- Über Fußballliebe und Boykott: Katar und die rote Linie
       
       > Warum unser Kolumnist erstmals in seinem Leben eine Fußball-WM verpassen
       > wird. Und warum das kein Tugendterror ist.
       
   IMG Bild: Ein Arbeiter im Januar 2019 auf der Baustelle des Lusail-Stadions, eines der Austragungsstätten der WM
       
       Meine erste WM endete mit einem Schreikrampf. Ich war drei Monate alt, als
       1982 Deutschland im [1][WM-Halbfinale] auf Frankreich traf. Mein Vater,
       Franzose, sah sich das Spiel zusammen mit meinem Onkel an, der Deutscher
       ist. Die Stimmung schaukelte sich angesichts des Spielverlaufs etwas hoch,
       sie sind beide nicht von zurückhaltendem Naturell, und explodierte, als
       dann Toni Schumacher den durchgebrochenen Patrick Battiston niederstreckte.
       
       Die beiden Herren begannen wild in den Röhrenfernseher
       hineinzuemotionalisieren, das wiederum erschreckte mich, der ich bis dahin
       friedlich und vom bisherigen Getöse unbeeindruckt in meinem Bettchen
       geschlafen hatte, in einer Weise, dass ich mich zu einem Schrei veranlasst
       sah, der die Weintrauben auf dem Häppchenteller platzen ließ. Bis zum Ende
       der Partie war ich nicht mehr zu beruhigen, und seither hat es fast kein
       Fußballspiel mehr gegeben, das mich emotional unangetastet ließ.
       
       So begann das mit dem Fußball und mir, und seither habe ich mit stetig
       wachsendem Interesse jede WM verfolgt. Und nicht nur verfolgt, sondern auch
       darüber [2][geschrieben], dadurch Freundschaften geknüpft, Ideen
       entwickelt, ein ganzes Fußballleben darum gebaut. Natürlich gab es wie in
       jeder Liebe stürmischere Phasen und Flauten, Augenblicke der
       heiter-gelassenen Ruhe und des zweifelnden Unwohlseins, aber trotzdem habe
       ich mich in einer Intensität mit diesem Sport beschäftigt, die den meisten
       Menschen – vorsichtig gesagt – schrullig vorkommen musste.
       
       Bis jetzt. Diese WM ist die erste seit meiner Geburt, auf die ich
       vollständig verzichten werde. Mindestens [3][6.500 Arbeiter*innen] sind
       gestorben auf den Baustellen, schreibt der Guardian. Das sind halb so viele
       Menschen wie die Stadt, in der ich zur Schule ging. 6.500 Menschen. Ich
       habe viel auf dem Bau gejobbt, deswegen drängt mir meine Fantasie all die
       Gefahren auf, die auf schlecht gesicherten Baustellen lauern: vom Gerüst
       stürzen, von herabfallenden Steinen erschlagen oder von einer defekten
       Stromleitung zu Tode geschockt werden. 6.500 Tote und eine Regierung, die
       verhindern will, dass von ihnen erzählt wird.
       
       ## Es gibt kein Recht darauf, dass allen alles egal ist
       
       Fußball zu gucken war nie ein unschuldiges Vergnügen. Die Bälle und Schuhe,
       die von Kindern zusammengenäht werden, die Diktaturen und Konzerne, die
       durch ihr Sponsoring das Unrecht, das sie anrichten, reinzuwaschen
       versuchen, die Korruption und Tyrannenkumpanei der Fifa, über all das hat
       man immer schon hinwegsehen müssen. Es gibt viele Texte, die darauf jetzt
       hinweisen und argumentieren, es sei doppelmoralisch, ausgerechnet bei Katar
       darauf hinzuweisen.
       
       Zynisch sind diese Texte. Nicht deswegen, weil sie auf die moralischen
       Verwerfungen vergangener Veranstaltungen hinweisen. Sondern weil in ihnen
       nicht steht, wo die Linie ist, die zu überschreiten die Verfasser*innen
       nicht bereit wären. Und weil sie so tun, als gäbe es durch Texte wie meinen
       jetzt einen moralischen Druck, sich schlecht zu fühlen, und das sei dann
       schon so eine Art Tugendterror.
       
       Niemand zwingt sie, an die Toten zu denken oder die gefolterten Gefangenen,
       an die Menschen, die gequält werden, weil sie nicht heterosexuell oder
       nicht männlich sind, an die faktische Sklaverei im Land und all dies. Aber
       es gibt kein Recht darauf, dass alle wegsehen. Es gibt kein Recht darauf,
       dass allen alles egal ist.
       
       Ich denke nicht, dass alle, die diese WM sehen, moralisch verkommen sind.
       Es gibt viele Motive, die WM zu verfolgen. Ich teile diese Motive nicht,
       das ist alles. Meine Linie ist überschritten. Das wird man ja wohl noch
       sagen dürfen.
       
       16 Nov 2022
       
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