URI: 
       # taz.de -- Boykottbewegung gegen WM in Katar: Widerständiges Spektakel
       
       > Die #BoycottQatar2022-Initiative hat in der Fanszene nicht nur eine
       > Debatte über die WM, sondern auch über die Verbände in Gang gesetzt.
       
   IMG Bild: Klare Zeichen in den Bundesligastadien: Hier zeigen Fans des SC Freiburg ihren Unmut gegen die WM
       
       Als wir im Herbst 2020 [1][die Kampagne #BoycottQatar2022] starteten, war
       uns schon klar, dass wir es mit einem mächtigen Gegner aufnehmen würden.
       Nicht nur mit dem Emirat Katar, bedeutender und politisch einflussreicher
       Anteilseigner in der europäischen Wirtschaft sowie im europäischen
       Spitzenfußball, sondern auch mit der Fifa-Führung um Gianni Infantino.
       
       Wie mächtig und skrupellos der Gegner ist, wissen wir spätestens seit der
       jüngsten Enthüllung des Schweizer Rundfunks und Fernsehens (SRF) über das
       „Project Merciless“. Im September 2013 hatte das Emirat die
       US-Sicherheitsfirma Global Risk Advices beauftragt, die Kritiker der WM in
       Katar, innerhalb wie außerhalb der Fifa, auszuspähen, um diese zu
       diskreditieren oder zu manipulieren. Die Firma versprach ihrem Auftraggeber
       „die weltweite Penetration“ des Diskurses über die WM. Allein diese
       Operation ließ sich Katar 387 Millionen US-Dollar kosten.
       
       Natürlich wussten wir auch, dass der Mensch käuflich ist. Und vielleicht
       ist die größte Überraschung, dass am Ende viele Menschen nicht käuflich
       waren. Dies gilt insbesondere für die kritische Fanszene, die in den
       letzten Monaten zu einem wichtigen Träger einer Kampagne für die
       Universalität der Menschenrechte wurde.
       
       Begonnen hatte es mit einer Handvoll Fangruppen, die über jahrelange
       Erfahrung in Aktionen gegen Rassismus und Homophobie verfügten und nun
       gemeinsam unter dem Label #BoycottQatar2022 antraten. Das klang für viele
       zunächst zu provokativ. Auch wurde oft nicht verstanden, um welche Form von
       Boykott es ging, nämlich einen Fanboykott. Aber die „Provokation“ beendete
       die Friedhofsruhe rund um das Turnier und störte erfolgreich das Schönreden
       der Verhältnisse im Austragungsland.
       
       ## Träger Start der Kampagne
       
       Ohne die „provokative“ Boykottforderung hätte sich die Diskussion über die
       WM vielleicht in landeskundlichen Betrachtungen und einigen klugen
       Aufsätzen erschöpft, wie es selbst einige als kritisch bekannte
       Autor:innen vorschlugen. Die Veranstaltungen hätte es in dem Maße kaum
       gegeben, und wohl auch nicht die vielen kreativen Aktionen der kritischen
       Fanszene, die sich keineswegs nur den Zuständen im Austragungsland
       widmeten, sondern auch die Politik der Verbände ins Visier nahmen.
       
       Der Start der Kampagne verlief etwas träge. Beim Nationalteam ist eine
       kritische Fanszene kaum existent. Die klubgebundene schien zunächst eher
       uninteressiert. Zu diesem Zeitpunkt war Katar nur bei den Fans des FC
       Bayern ein Thema, der seit 2011 sein Wintertrainingslager in der Aspire
       Academy absolviert und sich von Qatar Airways alimentieren lässt.
       
       Anfang 2021, als in Norwegen erste Profivereine zum Boykott aufriefen,
       [2][nahm die Kampagne etwas an Fahrt auf.] Nun kam es auch zum von uns
       gewünschten Doppelpass mit den Menschenrechtsorganisationen, denen in
       Sachen Boykott die Hände gebunden waren. Ein Markstein war eine Konferenz
       im Mai 2022 in Frankfurt, wo unter dem Label „Nicht Unsere WM!“ ein buntes
       Spektrum aus unterschiedlichsten Fanszenen zusammenfand, um über Fußball
       und Menschenrechte (mit Amnesty International), den Fußball im Nahen und
       Mittleren Osten, die Fifa und die Zukunft des Spiels sowie weitere Aktionen
       zu diskutieren.
       
       Seit dem Beginn der Saison 2022/23 werden die Initiatoren von ihrer
       Kampagne überrollt. Als Referent:innen dürften sie bislang um die 150
       Veranstaltungen besucht haben. Unzählige Exemplare von Aufklebern, Bannern,
       T-Shirts und Infobroschüren wurden vertrieben.
       
       An den letzten drei Spieltagen vor der WM-Pause gab es kaum ein Stadion im
       hiesigen Profifußball, in dem nicht gegen die WM demonstriert wurde.
       Vorausgegangen war ein Aufruf von #BoycottQatar2022, aber zumindest an
       einigen Orten wurden die oft sehr aufwändigen Aktionen wohl schon früher
       geplant. Unterm Strich stand die wohl größte Kundgebung pro Menschenrechte,
       die der deutsche Fußball jemals gesehen hat.
       
       Nach dem Start der WM wird es weitergehen. Fanprojekte und Kneipen füllen
       ihren Boykott mit Vorträgen oder großen Spielen aus der Konserve, in
       Gelsenkirchen (#back2bolzen) und anderen Städten wird während der
       Übertragungen alternativ gekickt, Regionalligisten wie Altona 93 und
       Preußen Münster, deren Spielbetrieb weiterläuft, werben mit Sondertrikots
       für Vielfalt und Menschenrechte. Wie die spektakulären Stadionchoreografien
       können diese unzähligen dezentralen Aktionen dazu beitragen, eine
       oppositionelle [3][Haltung gegen die entfesselte Kommerzialisierung und
       Gier im Profifußball zu festigen.] Die WM in Katar ist dafür nur ein,
       allerdings besonders absurdes Beispiel.
       
       Dietrich Schulze-Marmeling ist Mitorganisator der Kampagne
       #BoycottQatar2022.
       
       19 Nov 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.boycott-qatar.de/
   DIR [2] /Menschenrechte-im-WM-Land/!5814345
   DIR [3] /Fanperspektive-auf-die-WM-in-Katar/!5891749
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dietrich Schulze-Marmeling
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Boykott Katar 
   DIR Fans
   DIR Katar
   DIR GNS
   DIR Schwerpunkt Boykott Katar 
   DIR Fußball-WM
   DIR Arbeiterklasse
   DIR Katar
   DIR Katar
   DIR Fußball-WM 2022
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Katar und seine Opfer (3): Nas Mohamed muss hinschauen
       
       Der katarische homosexuelle Arzt Nas Mohamed hat Asyl in den USA erhalten,
       wo er seit 2011 lebt. Den aktuellen Boykott hält er für sinnlos.
       
   DIR Streit um Kapitänsbinde bei WM: Fifa trägt keine Liebe in sich
       
       Europäische Nationalteams dürfen nicht mit der „One Love“-Kapitänsbinde
       auflaufen. Der Weltverband hat den Machtkampf gewonnen.
       
   DIR Arbeitsbedingungen in Katar: Alles nicht so schlimm. Oder doch?
       
       Die Klagen über miese Jobbedingungen in Katar reißen nicht ab. Die
       Arbeitsorganisation ILO beschwichtigt – zu Unrecht, mahnen
       Aktivist:innen.
       
   DIR Fanperspektive auf die WM in Katar: „WM-Kritik darf nicht verpuffen“
       
       Die Fans rufen in den Stadien zum WM-Boykott auf. Fanvertreterin Helen
       Breit erklärt die Wucht der Debatte und warum der DFB Anlass zur Hoffnung
       gibt.
       
   DIR Alternativen zur Fußball-WM in Katar: Ratgeber für Boykotteure
       
       Mit der Auslosung nimmt die Fußball-WM in Katar Gestalt an. Die taz stellt
       zehn Ideen als Alternative vor.
       
   DIR Menschenrechte im WM-Land: Nichts ist gut in Katar
       
       Die Fußball-WM 2022 könne helfen, das Emirat Katar zu liberalisieren, hieß
       es einmal. Doch die Menschenrechtslage wurde immer prekärer.