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       # taz.de -- Anke Domscheit-Berg über Digitalpolitik: „Es fehlt eine gemeinsame Vision“
       
       > Die Linken-Politikerin Anke Domscheit-Berg wirft der Ampel vor, auch nach
       > einem Jahr noch nicht zu wissen, was sie digitalpolitisch will. Einzig
       > beim Thema Nachhaltigkeit tue sich was.
       
   IMG Bild: Wird das Glasfaser-Ausbauziel vor 2030 erreicht, droht eine gedrosselte Förderung. „Hä?“, sagt Domscheit-Berg
       
       taz: Frau Domscheit-Berg, diese Woche veranstaltet die Bundesregierung
       ihren Digitalgipfel. Zeitgleich wird die Ampelkoalition ein Jahr alt –
       welche Schulnote geben Sie der Bundesregierung für ihre Digitalpolitik? 
       
       Eine 3 minus.
       
       Warum? 
       
       Der Hauptgrund ist: Die aktuelle Regierung hat es tatsächlich geschafft, in
       der Governance, also der Zuordnung von Rollen und Verantwortungen, im
       Bereich Digitalisierung noch schlechter zu sein als die Große Koalition.
       Das hätte ich gar nicht für möglich gehalten.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Da braucht man sich nur mal anzuschauen, wie unklar die
       Verantwortlichkeiten verteilt sind. Wenn man sich nicht einig wurde,
       bekamen einfach mehrere Ministerien den Hut auf. Zum Beispiel beim
       [1][Thema digitale Identitäten]: Hier zanken sich vier Ministerien, die
       alle gemeinsam die Federführung haben sollen, nämlich Wirtschaft, Inneres,
       Forschung und das Ministerium für Digitales und Verkehr. Beim Digitalbudget
       sind Bundeskanzleramt plus zwei Ministerien zuständig. Bei der
       Datenstrategie gibt es immerhin nur zwei. Es kommt ständig vor, dass
       mehrere Hände gleichzeitig nach einem Stift greifen und schreiben. Wie soll
       da etwas Sinnvolles bei rauskommen?
       
       Da die Themen außerdem auf Ministerien mit Hausspitzen aus
       unterschiedlichen Parteien verteilt sind, gibt es zusätzliche Dissonanzen.
       Wir haben im Februar, also mittlerweile fast vor einem Jahr, im
       Digitalausschuss mal um eine Art Wimmelbild gebeten, damit wir endlich
       durchblicken können, wer für was zuständig ist. Denn wir müssen als
       Abgeordnete ja die richtigen Stellen befragen können.
       
       Und? 
       
       Das sollte zeitnah kommen. Dann spätestens vor der Sommerpause. Es kam bis
       heute nicht.
       
       Sind die doppelten und dreifachen Zuständigkeiten tatsächlich das
       Hauptproblem?
       
       Es ist eines von mehreren. Wirklich schlimm ist auch, dass eine gemeinsame
       Vision fehlt. Daran mangelt es schon im [2][Koalitionsvertrag]. Dabei muss
       ich doch als Regierung wissen: Was ist mein Zielbild? Wo will ich hin? Und
       danach entwickle ich eine Strategie, die mir dabei helfen soll, diese
       Vision zu erreichen. Aber wenn ich das erste nicht habe, die Vision –
       welche Strategie will ich dann entwickeln? Was dabei rauskommt, ist das
       aktuelle Potpourri ohne verbindende Klammer – und viel Zoff.
       
       Regierungsvertreter:innen würden Ihnen entgegenhalten, dass sie in
       vielen Bereichen bei null anfangen müssen. 
       
       Natürlich kann die jetzige Regierung nicht über Nacht die Versäumnisse der
       Großen Koalition mit magischen Zauberstäben beseitigen. Die
       Verwaltungsdigitalisierung etwa ist furchtbar im Verzug, weil es an allen
       Grundlagen fehlt, an einheitlichen Standards, an Schnittstellen und an
       Basisdiensten, die kann die Ampel nicht mal eben backen. Aber ein
       Regierungsjahr ist um und warum beginnen erst jetzt Gespräche zwischen Bund
       und Ländern darüber, welche Standards man braucht? Ich bin wirklich kurz
       davor, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen.
       
       Schwerpunktthema des Digitalgipfels ist die [3][Datenökonomie]. Wie sieht
       es da aus? 
       
       Da geht es aktuell viel um die Frage: Wer hat Zugriff auf die Daten in
       einer vernetzten Welt? Also Daten, die etwa smarte Haushaltsgeräte wie
       Amazons Alexa oder eine Fitnessuhr sammeln. Bei der Fitnessuhr könnte es
       noch einfach sein, weil mir die Uhr gehört, aber trotzdem kann ich nicht an
       die Daten ran und sie auf eine Fitnessuhr eines anderen Herstellers
       übertragen. Aber was ist, wenn ich in einem Hotel bin, wo ein Alexa auf dem
       Tisch steht und vielleicht mithört? Gehören die Daten dann mir oder dem
       Hotel?
       
       Diese Fragen rund um den Datenzugang im Internet der Dinge werden gerade
       beim [4][Data Act] auf EU-Ebene verhandelt. Es wäre gut, wenn die
       Bundesregierung eine klare Vorstellung hätte, wie die Rechte der Menschen,
       deren Daten gesammelt werden, unabhängig davon, wem ein solches Gerät
       gehört, geschützt werden können. Erstaunlicherweise gibt es darüber aber
       keinen Konsens in der Ampel. Auch hier rächt sich die fehlende Vision.
       
       Gibt es denn auch etwas, wo Sie loben können? 
       
       Ich habe das Gefühl, dass sich beim Thema [5][Nachhaltigkeit und
       Digitalisierung] endlich etwas bewegt. Zum Beispiel ist die Nachhaltigkeit
       der IT des Bundes zwar immer noch schlecht und die Datenlage obendrein
       mangelhaft, aber endlich sieht man das als Problem und plant konkrete
       Verbesserungen: ein neues Berichtswesen für mehr Transparenz, den Wechsel
       auf Ökostrom und einen nachhaltigen Einkauf von IT. Der Bund kauft jedes
       Jahr für über eine Milliarde Euro IT-Produkte und -Dienstleistungen ein, da
       macht das einen Unterschied. Mir geht das zwar noch zu langsam, aber
       immerhin in die richtige Richtung. Außerdem steht das Recht auf Reparatur
       mit 2 Millionen Euro im Haushalt. Das ist nicht viel, aber vorher hat es
       gar keins gegeben.
       
       Was ist mit dem Breitbandausbau? Da gibt es neue Förderprogramme, weniger
       Bürokratie … 
       
       Ach ja, die Gigabitstrategie. Da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll.
       Zunächst mal ist sie, genau wie die Digitalstrategie auch, komplett ohne
       Einbeziehung der Zivilgesellschaft entstanden. Dabei steht im
       Koalitionsvertrag, dass man als Regierung offener, transparenter,
       partizipativer werden will. Wozu mangelnde zivilgesellschaftliche
       Beteiligung führt, sieht man bei der Gigabitstrategie sehr deutlich.
       
       Das ist quasi der Fahrplan, der festschreibt, wie der Breitbandausbau
       geschafft werden soll. 
       
       Ja. Und es ist leider ein Wirtschaftslobbyismuspapier. Der Markt kommt da
       immer zuerst. Man will also den Breitbandausbau nicht, um
       Verbraucher:innen mehr Teilhabe zu ermöglichen, sondern damit die
       Unternehmen mehr Umsatz machen können.
       
       Wie zeigt sich das? 
       
       Zum Beispiel beim Ausbau: Es bleibt völlig legal, dass in einem Ort, wo
       schon Glasfaser liegt, ein zweiter Netzanbieter kommt, alle Straßen noch
       mal aufreißt, um noch eine Glasfaser zu verlegen. Das Problem dabei: Das
       bindet Tiefbaukräfte und die sind gerade der Flaschenhals beim
       Breitbandausbau. Ein Dorf kriegt also kein Glasfasernetz, damit eine Stadt
       zwei bekommt, weil sich das für die Unternehmen mehr lohnt.
       
       Das zeigt, dass es nicht darum geht, möglichst viele Menschen möglichst
       schnell zu versorgen, sondern den Telekomunternehmen möglichst viel
       Geschäft zu ermöglichen. Aber am absurdesten finde ich das: Wenn das
       Ausbauziel vor 2030 erreichbar wird, soll die Förderung gedrosselt werden.
       Hä? Wo ist das Problem, wenn ein Dorf in der Prignitz schon 2028 Glasfaser
       bekommt statt erst 2030?
       
       Ein Digitalthema, das global gerade für Aufregung sorgt, ist [6][Twitter].
       Die Bundesregierung äußert hier „wachsende Sorge“, einige Ministerien sind
       schon auf der [7][alternativen Plattform Mastodon]. Richtig so? 
       
       Persönlich kann ich sagen, dass die Entscheidung bleiben oder gehen eine
       wirklich schwierige ist. Ich bin zwar schon seit Mai bei Mastodon. Aber bei
       Twitter sind die Reichweite und die Vernetzungsmöglichkeiten immer noch
       einzigartig. Aus meinem Fachgebiet geht da praktisch nichts an mir vorbei.
       Aber es geht letztlich nicht um einzelne Politiker:innen oder
       Ministerien.
       
       Ich gucke mit großer Sorge auf die Communitys, die diese
       Vernetzungsmöglichkeit viel existenzieller brauchen und bei denen es
       teilweise um Leben und Tod geht, im Iran zum Beispiel. Für die Menschen
       dort ist es ein Überlebensfaktor, Aufmerksamkeit zu erhalten. Und auch für
       Bewegungen wie #medizinbrennt oder Black Lives Matter. Die Reichweite von
       Twitter können sie woanders nicht einfach so bekommen.
       
       6 Dec 2022
       
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