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       # taz.de -- Balkan-Korrespondent über den Jugoslawienkrieg: „Aus dem Krieg gelernt“
       
       > Als Jugoslawien zerfiel, war Norbert Mappes-Niediek dort Korrespondent.
       > In seinem neuen Buch sortiert er Dynamiken, Kalkulationen und
       > Fehlschlüsse.
       
   IMG Bild: Tito, Gründer und Präsident des sozialistischen Jugoslawiens (vorn in weißer Uniform) im Juni 1948
       
       taz: Herr Mappes-Niediek, sind die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen
       Serbien und dem Kosovo wegen der Autokennzeichen eine weitere Folge von
       dem, was Sie in Ihrem neuen Buch „die Dauerserie“ nennen, die den Titel
       „Der Balkan brennt – mal wieder“ tragen könnte? 
       
       Norbert Mappes-Niediek: Nein. Mit „Dauerserie“ meine ich das
       jahrhundertelange mal friedliche, mal konfliktreiche Zusammenleben der
       Volksgruppen in verschiedenen Staaten und Reichen. Die letzte Folge dieser
       Serie wurde mit dem Kosovokrieg 1999 abgedreht. In der alten Serie gab es
       immer Stoff für Entwicklung, zum Guten wie zum Schlechten. In der neuen
       Serie entwickelt sich gar nichts mehr. Seit der staatlichen und
       gesellschaftlichen Trennung können Kroaten, Albaner, Serben oder Bosnier
       ihre schlimmen Erfahrungen mit der je anderen Volksgruppe nicht mehr durch
       neue, bessere Erfahrungen relativieren. Das letzte gemeinsame Erlebnis ist
       eine Schlachtszene. Sie wurde zum Standbild, zum Screenshot.
       
       Wieso hatte Ihrer Meinung nach [1][Tito, der Gründer und Präsident des
       sozialistischen Jugoslawiens], einen Anteil an der Ethnisierung der
       Konflikte? 
       
       Das alte Königreich Jugoslawien hatte die besonderen Ansprüche der
       muslimischen Bosnier, der katholischen Kroaten, der Albaner überhaupt nicht
       berücksichtigt. Tito wollte den Fehler nicht wiederholen und hat
       stattdessen ein ethnisches Gleichgewicht geschaffen. Am Ende waren alle
       Lebensbereiche ethnisch durchquotiert. Das hat die Identitäten verfestigt.
       Immer ging es darum, ob dieser oder jener Posten, diese oder jene Ressource
       an dieses oder jenes Volk ging. Wer unterdrückt wen, wer kriegt mehr, wer
       weniger? Das war stets Thema Nummer eins.
       
       Und Papa entschied, wer gewinnt? 
       
       Genau. Aber Tito war, anders als oft behauptet, nicht der Diktator, er war
       der Schiedsrichter. Als er starb, blieb diese Rolle unbesetzt. In Bosnien
       wurde sie dann nach dem Krieg einem Ausländer übertragen: dem Hohen
       Repräsentanten.
       
       Zeigt das Beispiel Jugoslawien, dass die Quote keine Lösung ist? 
       
       Die starre ethnische Quote ist es jedenfalls nicht. Über die Berechtigung
       etwa einer Frauenquote sagt die jugoslawische Erfahrung aber natürlich
       nichts aus.
       
       Sie zitieren einen jugoslawischen Wirtschaftsexperten mit der Aussage, dass
       sich in Jugoslawien alle von allen ausgebeutet fühlten, und zwar zu Recht. 
       
       Ja. Man kann sich das Verhältnis so ähnlich vorstellen wie in der EU zur
       Zeit der griechischen Schuldenkrise. Die einen meinen, sie zahlten in ein
       Fass ohne Boden, und die anderen verweisen darauf, dass sich die Schere
       zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet.
       
       Droht der EU ein ähnliches Schicksal, also Zerfall? 
       
       Sagen wir mal: Es geht so lange gut, wie alle Seiten gewinnen und solange
       die Gemeinschaft als Mannschaft betrachtet wird und nicht als eine Liga, wo
       einer gegen den anderen spielt. Immerhin hat es die EU geschafft, das
       Wohlstandsniveau durch die Osterweiterung tendenziell an den Westen
       anzugleichen. Aber diese Entwicklung ist stehen geblieben.
       
       Hätte die EU, wie Joschka Fischer 1999 forderte, die Staaten aus dem
       ehemaligen Jugoslawien komplett und sofort in die EU aufnehmen sollen? 
       
       Ja. Aber zu keinem Zeitpunkt war die EU bereit, das Versprechen von
       Saloniki 2003, alle Staaten aufzunehmen, Wirklichkeit werden zu lassen.
       
       Was würde passieren, wenn nun die Ukraine vor Bosnien in die EU aufgenommen
       werden würde? 
       
       Wahrscheinlich nicht viel. Die Regierungen der sechs sogenannten West- oder
       besser: Restbalkanstaaten haben sich im Wartezimmer der EU ziemlich gut
       eingerichtet.
       
       Die Debatte zur Frage, ob die frühe Anerkennung der Republiken durch
       Deutschland zur Eskalation des Krieges beitrug, findet zu jedem Jahrestag
       wieder statt. Mir ist aber immer noch nicht klar, wie die Deutschen es
       damals geschafft haben, die internationale Gemeinschaft auf ihre Seite zu
       ziehen. 
       
       Im zweiten Halbjahr 1991, als die Debatte um die Anerkennung von Kroatien
       und Slowenien geführt wurde, musste jedem klar sein, dass Jugoslawien nicht
       zu retten war. Wichtige politische Vermittler wie der europäische
       Verhandlungsführer Lord Carrington, der UN-Sonderbeauftragte Cyrus Vance
       und der UN-Generalsekretär Javier Pérez de Cuéllar warnten nicht deshalb
       vor einer frühzeitigen Anerkennung, weil sie Illusionen über den
       Fortbestand Jugoslawiens hatten, sondern weil sie wussten, dass das für
       Bosnien nichts Gutes bedeuten würde. Die Deutschen haben die Warnungen vom
       Tisch gewischt.
       
       Warum? 
       
       Nach Aufhebung der Archivsperre habe ich beim Auswärtigen Amt den
       Briefwechsel zwischen der Botschaft in Belgrad, dem Generalkonsulat in
       Zagreb und der Zentrale in Bonn gelesen. Bosnien war für Bonn kein Thema.
       Sie sind einfach mit dem Tunnelblick des Jägers auf das moralische Ziel
       losgegangen: die Anerkennung. Damit auch Frankreich mitzieht, hat man sich
       dann auf einen fatalen Kompromiss geeinigt: Alle jugoslawischen Republiken
       sollten als unabhängig anerkannt werden, wenn sie Minderheitenrechte in der
       Verfassung und eine Volksabstimmung vorwiesen. Bosnien musste sich
       innerhalb einer Woche entscheiden, ob es weiter – unter Milošević’ Dominanz
       – in Jugoslawien bleiben oder unabhängig werden wollte. Eine Wahl zwischen
       Pest und Cholera.
       
       Inwiefern? 
       
       Auf der einen Seite drohte das Absinken zu einer marginalisierten
       Minderheit in einem serbisch dominierten Restjugoslawien, auf der anderen
       ein Bürgerkrieg. Schließlich war ein knappes Drittel der Bevölkerung
       serbisch. Kohl und Genscher haben das Dilemma überhaupt nicht wahrgenommen
       – wenn auch nicht aus bösen Absichten oder dem Wunsch nach Hegemonie im
       neuen Europa.
       
       Sondern weil sie glaubten, das würde den Krieg beenden? 
       
       Ja. Man wollte dieses Jugoslawiending schnell aus der Welt schaffen. Man
       musste sich einig werden, denn exakt als der Konflikt aufflammte,
       konzentrierte sich Europa auf den historischen Gipfel von Maastricht, auf
       dem alles beschlossen werden sollte, was die EU bis heute ausmacht – unter
       anderem die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Aber die Deutschen
       haben sich auch deshalb durchgesetzt, weil niemand eine brauchbare
       Alternative hatte.
       
       Hat die internationale Politik aus dem Jugoslawienkrieg gelernt? 
       
       Irgendwie ja. Ein Fehler der Diplomatie damals war, dass sie sich nicht
       entscheiden konnte zwischen Parteinahme und neutraler Vermittlung. Diesen
       Fehler hat die westliche Gemeinschaft in der Ukraine jedenfalls nicht
       gemacht.
       
       Ist Putin ein Wiedergänger von Milošević? 
       
       Nein. Milošević wurde oft als eine Art Mastermind der Kriege
       missverstanden. In Wirklichkeit hat er agiert wie ein Banker – der er im
       Übrigen tatsächlich war. Banker haben kein festes Ziel. Sie wollen immer
       nur den Kurs ihres Aktienpakets oben halten. Milošević war weder der
       teuflische noch der geniale Regisseur des Geschehens. Er war vielmehr sehr
       flexibel in seinen Zielen und dabei vor allem eins: skrupellos.
       
       Ethnische Säuberung und Genozid waren Begriffe, die seit dem
       Jugoslawienkonflikt in den politischen Wortschatz eingingen. Auch im Krieg
       gegen die Ukraine spielen sie wieder eine Rolle. Wie tauglich sind diese
       Begriffe? 
       
       Was Genozid ist und was nicht, entscheiden internationale Gerichte. Im Fall
       Srebrenica war der Tatbestand sicher erfüllt. Dass der Begriff inzwischen –
       und nicht nur mit Blick auf Jugoslawien – so häufig fällt, darf man wohl
       auch mit dem Wunsch erklären, sich und seiner eigenen Nation eine Art
       kollektive Unschuld zuzusprechen. Als Opfer eines Genozids ist man
       praktisch für alles entschuldigt.
       
       Ist der Internationale Strafgerichtshof das wichtigste Ergebnis des
       Jugoslawienkrieges? 
       
       Er hätte es werden können. Aber Russland, China [2][und die USA machen
       nicht mit]. Von der Utopie, dass man Verbrechen über alle Grenzen hinweg
       verfolgen, dass man mächtige politische Verbrecher bestrafen könnte, ist
       damit nicht viel mehr übriggeblieben als ein Rumpfgerichtshof, der
       allenfalls Verbrechen in [3][afrikanischen Staaten] verfolgen kann – und
       der deswegen auch noch dem Vorwurf des Rassismus ausgesetzt ist. Solange
       einer internationalen Gerichtsbarkeit keine Exekutive zur Verfügung steht,
       die Urteile vollstrecken und politische Verbrecher verhaften kann, wird man
       Recht und Macht nie sauber trennen können.
       
       Einerseits ist Srebrenica auch im Westen ein Begriff für schlimmste
       Verbrechen. Andererseits scheint der Jugoslawienkrieg völlig vergessen. Als
       hätte er nie stattgefunden, sprach beispielsweise die deutsche
       Außenministerin Annalena Baerbock im Februar vom ersten Krieg in Europa
       seit 1945. 
       
       Ja, das ist schon erstaunlich. Vielleicht liegt es daran, dass man in
       Europa das Geschehen in Jugoslawien fälschlich für eine verspätete
       Nationenbildung hielt, die der Westen 100 Jahre früher durchgemacht hatte.
       Manche mögen auch das irrige Gefühl haben, der Balkan gehöre nicht zu
       Europa. Beides hat es erleichtert, die Kriege zu verdrängen.
       
       Die Brutalität des Krieges tat dazu sicher ihr Übriges. Warum er so
       blutrünstig war, ist immer noch eine offene Frage, oder? 
       
       Viele Täter kamen aus gewaltnahen Milieus: Hooligans, Kriminelle, Söldner,
       Glücksritter, die vom Geheimdienst unterstützt wurden, Rückkehrer, die in
       der Diaspora ultranationalistische Narrative gepflegt haben und keine
       Scham hatten zu plündern, zu morden, zu vertreiben, für die schmutzige
       Alltagsarbeit der ethnischen Säuberungen. Aber es gab auch die
       Nachbarschaftstäter. Das ist vielleicht das gruseligste Kapitel der Kriege.
       
       Teilweise wurden die brutalen Mörder als Helden gefeiert. 
       
       Ja, aber interessanterweise gibt es außer im Kosovo in keinem
       Nachfolgestaat heute einen ungebrochenen Veteranenkult. Ob jemand ein Held
       war oder ein Verbrecher, werden die Gesellschaften wohl erst entscheiden,
       wenn sie sicher wissen, ob der Untergang Jugoslawiens für sie ein Segen
       oder ein Fluch war.
       
       8 Dec 2022
       
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