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       # taz.de -- Holocaust und Nakba: In Deutschland nicht aussprechbar
       
       > Gedanken über die Erfahrung, in Israel gecancelt zu werden. Und warum es
       > wichtig ist, den Missbrauch von Holocaust-Gedenken zu benennen.
       
   IMG Bild: Blick in die Gedenkstätte Yad Vashem
       
       Als ich in den frühen 90er Jahren nach Israel reiste, bezahlte Yad Vashem
       mein Flugticket. Zum ersten Seminar über den Holocaust in deutscher
       Sprache, ein symbolischer Einschnitt, wurde eine kleine Gruppe von
       Pädagogen und Journalistinnen eingeladen, die aus israelischer Sicht
       taugliche Multiplikatoren des Gedenkens waren. Am Ende bekamen wir ein
       Zertifikat; ich habe es aufbewahrt. Es bedeutete mir etwas.
       
       Dreißig Jahre später, vor wenigen Wochen, war der Druck vonseiten des
       heutigen Direktors von Yad Vashem ausschlaggebend dafür, dass das
       [1][Goethe-Institut Tel Aviv] eine Veranstaltung absagte, auf der ich mein
       Buch „[2][Den Schmerz der Anderen begreifen]“ vorstellen wollte. Diese
       Erfahrung liegt nun neben dem Zertifikat von einst.
       
       Was ist geschehen? Auf die kürzeste Formel gebracht, habe ich aus nächster
       Nähe erlebt, wie die Instrumentalisierung des Holocaustgedenkens
       funktioniert. In Gestalt von Dani Dayan brachte ein vormaliger Anführer der
       Siedlerbewegung die moralische Wucht von Yad Vashem in Stellung gegen die
       Redefreiheit an einer deutschen Institution.
       
       Der Soziologe Moshe Zuckermann kommentiert das so: Die Gedenkstätte sei zu
       einem „Zweig israelischer Propaganda“ verkommen. Als Sohn
       polnisch-jüdischer Holocaustüberlebender kann er anders formulieren, als es
       für mich angemessen wäre. Kritik an Yad Vashem gehört in Deutschland zum
       Nichtsprechbaren. Natürlich ging es bei dem Konflikt in Tel Aviv vorrangig
       weder um mich noch um mein Buch.
       
       ## Ängstlicher deutscher Diskurs
       
       Es sollte ein Brückenschlag verhindert werden, das praktizierte Begreifen
       fremden Schmerzes: ein Trialog zwischen einer Deutschen, einem jüdischen
       Historiker und einem palästinensischen Politologen über die tragisch
       verflochtenen Traumata von Holocaust und Nakba. Und die geschichtliche
       Verbindung zwischen diesen beiden unvergleichbaren Geschehnissen steht ja
       außer Zweifel.
       
       Die kollektive Entrechtung der Palästinenser hängt unmittelbar mit der
       Gründung des Staates Israel zusammen und diese Gründung wiederum mit der
       Shoah. Meine verhinderten Mitpanelisten [3][Amos Goldberg] und [4][Bashir
       Bashir] schreiben als Wissenschaftler seit Jahren über neue, an Empathie
       orientierte Zugänge zum Jahr 1948. Das Thema ist für die israelische
       Öffentlichkeit also nicht neu; auch in den USA wird die Debatte
       wahrgenommen.
       
       In Deutschland herrsche zu Goldberg/Bashir indes selbst in der akademischen
       Community „dröhnendes Schweigen“, so die [5][Soziologin Teresa Koloma
       Beck]. Der Diskurs ist hier weitaus ängstlicher als in Israel, wo es längst
       auch eine postzionistische Geschichtsschreibung gibt. Eine Reihe neuer
       Bücher über 1948 ist gerade in Arbeit.
       
       Die rechtsradikale Gruppe Im Tirzu macht es sich hingegen zur Mission,
       jedes öffentliche Gespräch über die Nakba zu ersticken, und sie war die
       Erste, die in Tel Aviv gegen uns protestierte. Dann trat der Staat auf den
       Plan: „Dreiste Trivialisierung des Holocausts“, so das Außenministerium.
       Das Auswärtige Amt in Berlin reagierte mit einer eilfertigen Versicherung:
       „Die Singularität des Holocausts darf aus Sicht des Auswärtigen Amts zu
       keinem Zeitpunkt infrage gestellt werden.“
       
       ## Geschichtspolitische Doktrin
       
       Was dieser Satz bedeutet, fiel mir erst im Nachhinein auf. Es handelt sich
       um eine geschichtspolitische Doktrin, die einer Regierung nicht zusteht.
       Singularität ist ein wertender Begriff, den diverse angesehene
       Nationalsozialismushistoriker durchaus anzweifeln oder als untauglich
       ablehnen. Gewiss, Deutsche mögen mit dem Wort eine besondere Verantwortung
       ausdrücken. Aber der Glaube an Singularität darf nicht amtlich verordnet
       werden, als verlaufe hier die Grenze zum Verbotenen, der Holocaustleugnung.
       
       Ist es nicht eigentlich ein Merkmal autoritärer Systeme, detaillierte
       Geschichtsinterpretationen festzulegen? Und nun neigt ein grün geführtes
       Außenamt dazu? Per Tweet erklärte Außenministerin [6][Annalena Baerbock den
       Holodomor zum Genozid], noch bevor der Bundestag beriet. Ein Geschenk an
       die ukrainische Regierung, obgleich die Fachwelt auch in dieser Frage
       uneins ist.
       
       Politisch dirigierte Erinnerungspolitik ist weltweit auf dem Vormarsch; zu
       glauben, Deutschland sei dagegen immun, wäre naiv. Und es gibt bei uns eine
       nachvollziehbare, aus Scham resultierende Blockade, den Missbrauch von
       NS-Erinnerung in Staaten ehemaliger Opfer des Nationalsozialismus
       wahrzunehmen. Das hat in der Vergangenheit zur falschen Russlandpolitik
       beigetragen. Besonders wirksam ist die Schamblockade diesbezüglich
       gegenüber Israel. Erneut: verständlicherweise.
       
       Es ist aber für den Erhalt einer lebendigen Erinnerungskultur und auch für
       den Kampf gegen Antisemitismus dringend erforderlich, eine Kultur des
       Sprechens über den Missbrauch von Holocaustgedenken zu entwickeln – auch
       wenn es dabei um Israel geht. Die Dringlichkeit dessen geht aus den
       täglichen Nachrichten hervor.
       
       ## Weiter weggucken geht nicht
       
       Gegenüber einer künftigen Regierung mit rechtsextremen Ministern, die
       Menschenrechtsorganisationen als „existenzielle Bedrohung“ betrachten und
       die endgültige Vertreibung der Palästinenser als Option, kann sich
       Deutschland nicht länger so verhalten, wie es die Skulptur der drei Affen
       symbolisiert: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.
       
       „[7][Israel schlafwandelt in einen jüdischen Faschismus hinein]“, warnt
       eine leitende Kommentatorin der Tageszeitung Ha’aretz. Auch dies ein in
       Deutschland nicht sprechbarer Begriff. Ein politischer Schulterschluss, in
       dem es die deutsche Seite mit der Verantwortung für die Shoah begründet,
       [8][Israel gegen besatzungskritische UN-Mehrheiten beizustehen], war schon
       bisher problematisch. Nun aber ist die deutsche Politik mit einem Dilemma
       verstörenden Ausmaßes konfrontiert.
       
       Meine persönliche Erfahrung vor einigen Wochen war ein winziges Steinchen
       in einem Mosaik, von dem wir noch nicht wissen, welche Form es annehmen
       wird.
       
       8 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Protest-von-israelischer-Regierung/!5894515
   DIR [2] https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/513195/den-schmerz-der-anderen-begreifen/
   DIR [3] https://www.goethe.de/ins/il/de/kul/mag/21581473.html
   DIR [4] https://www.vanleer.org.il/en/members/prof-bashir-bashir/
   DIR [5] https://www.hsu-hh.de/soziologie/prof-dr-teresa-koloma-beck
   DIR [6] https://twitter.com/abaerbock/status/1596121695336677378
   DIR [7] https://www.haaretz.com/israel-news/elections/2022-10-30/ty-article-magazine/.premium/will-israel-fall-to-the-far-right-without-a-whimper/00000184-29b1-db86-a394-abb51d570000
   DIR [8] /Vollversammlung-der-UN/!5078429
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Charlotte Wiedemann
       
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