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       # taz.de -- Pilztheaterstück „The Fun in Fungus“: Biologie und Kapitalismus
       
       > Anton Pleva bringt allerbesten Sachbuchstoff auf die Bühne des Hamburger
       > Sprechwerks – das klappt sogar sehr gut.
       
   IMG Bild: Viel weniger Individuen, als es scheint: zwei Steinpilze im Wald
       
       Hamburg taz | „Desto mehr man über [1][Pilze] erfährt, desto weniger
       bleibt, was ohne sie Sinn ergibt“: Müsste man diesen Theaterabend, sagen
       wir, twittertauglich zusammenfassen, dann wäre dieser Satz nicht der
       schlechteste. Er stammt aus Merlin Sheldrakes Buch „Verwobenes Leben“ –
       bezeichnender Untertitel: „Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft
       beeinflussen“ – und ist immer wieder mal zu hören während „The Fun in
       Fungus“.
       
       Das Stück von Anton Pleva, der selbst auch auftritt, beschäftigt sich
       zunächst einmal ganz konkret mit Pilzen, diesen mal sehr willkommenen, mal
       als lebensbedrohlich wahrgenommenen Mischwesen: konstitutiv in der
       Pilzpfanne, Besorgnis erregend [2][an der Badezimmerwand]. Sie sind auf, an
       und in allem, das uns umgibt (inklusive unserer Körper selbst). Oder, wie
       es Pleva gegenüber der taz formuliert: „Ohne Pilze gäbe es kein Leben auf
       dem Planeten – nichts – die Erde wäre ‚wüst und leer‘.“ In der Tat: Pilzen
       – und, na gut, Algen auch – verdanken wir ja einen für uns bewohnbaren
       Planeten.
       
       ## Vernetzte Welt
       
       Neben Sheldrake war auch [3][Anna Lowenhaupt Tsings „Der Pilz am Ende der
       Welt“] wichtige Inspiration, und darin geht es dann nicht mehr nur um
       Biologie, sondern mindestens so sehr um den heutigen Kapitalismus. Über
       allerlei irrige Selbstbilder sprechen nun – neben Pleva – Henrik Demcker,
       Marc Laade, Kathrin Ost und Birgit Welink: über die Idee des Menschen etwa,
       er sei aller Natur enthoben, nicht vielmehr notwendigerweise verbunden mit,
       ja: abhängig von allem, [4][das ihn umgibt]; oder, auf anderer Ebene: über
       die trügerischen Glaubenssätze alter und nicht ganz so alter
       Liberalismus-Spielarten. Manchmal singen sie über all das auch ganz
       beglückend, die Musik kommt von Demcker. Währenddessen zubereitete und im
       Anschluss gereichte Champignoncremesuppe, vegan, gab es aber nur am
       Premierenabend.
       
       Ist guter Sachbuch-Stoff nun auch guter für die Bühne? Es ist ja ein
       [5][Theater der Wissensvermittlung]; eines, das, so ahnt man,
       beträchtliches, vorab erworbenes Wissen bühnentauglich aufbereiten möchte.
       Was durchaus gelingt: Wer das kleine Hinterhoftheater verlässt, weiß wohl
       mehr über Pilze (aber längst nicht nur). Die naheliegende Gefahr dabei wäre
       vielleicht ein Verfallen ins allzu sehr Vorlesungshafte. Mit solchen Sorgen
       habe er sich durchaus auch getragen, erzählt Pleva denn auch der taz.
       
       ## Anti-Illusions-Theater
       
       Für manche Zuschauende mag dieser Tatbestand erfüllt sein. Es gibt hier
       keinen Plot, keine Figuren, dafür ein vielleicht Brecht remixendes
       Anti-Illusionstheater: Weite Teile des Materials werden da tatsächlich
       vorgelesen, aus schwarzen Ordnern. Das ist einerseits einfach nur den
       Zwängen freien Schaffens und der entsprechenden Budgets geschuldet: „Das
       Teuerste am Theater ist es“, sagt Pleva, „einen Text auswendig zu lernen.“
       
       Aber es hilft auch, den erwähnten Didaktik-Overkill zu vermeiden: Die immer
       wieder selbst sich unterbrechende Form lässt es, dem realen
       Wissensvorsprung zum Trotz, gerade nicht so erscheinen, als redeten da
       Expert*innen ein auf zu belehrend Dasitzende, sondern eher so, als
       befragten alle gemeinsam den Text, „sodass die Performer*Innen genau so
       überrascht, verwundert und begeistert sein können wie das Publikum“, sagt
       Pleva. Man könnte es auch Mitmachtheater nennen, aber eines der ganz und
       gar unpeinlichen Art.
       
       8 Dec 2022
       
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   DIR Alexander Diehl
       
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