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       # taz.de -- Pinocchio-Animationsfilm im Kino: Der „Duce“ mag Holzpuppen
       
       > Regisseur Guillermo del Toro siedelt seinen „Pinocchio“ im Faschismus an.
       > Der Gewalt der Kinderbuchvorlage steht seine Fassung in nichts nach.
       
   IMG Bild: Und tanzen kann er auch noch: Pinocchio als Marionette mit Leidensgenossen
       
       Was macht einen Stoff zeitlos? Eine seiner Qualitäten kann sich darin
       zeigen, dass einem die Geschichte zwar einigermaßen präsent ist, man ihre
       Entstehungszeit aber nicht allzu deutlich vor Augen hat. Wenn man sich etwa
       Guillermo del Toros Animationsfilm „Pinocchio“ anschaut, mag die Frage
       aufkommen, ob das italienische Kinderbuch, auf dem er beruht, womöglich aus
       der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammt. Da war sein Autor Carlo
       Collodi jedoch schon eine Weile tot, die Romanfassung von „Pinocchios
       Abenteuer“ erschien 1883.
       
       Bei Guillermo del Toro hingegen spielt die Handlung nach dem Ersten
       Weltkrieg. Überhaupt greift seine Geschichte viele Details der Vorlage auf,
       um sie dann in ihre eigene Ordnung zu bringen. Den zeitlichen Rahmen steckt
       del Toro anfangs in einer Rückblende ab. Man erfährt vom Erzähler, der
       Grille, die im Buch lediglich eine der Figuren ist, dass der Holzschnitzer
       Gepetto, der Schöpfer Pinocchios, bei einem Bomberangriff im Krieg seinen
       Sohn verloren hat und in seiner Trauer beschließt, diesen aus Holz
       nachzuschaffen.
       
       Das Holzscheit, aus dem später Pinocchio wird, kann im Film, anders als im
       Buch, nicht schon vor seiner Bearbeitung sprechen. Vielmehr wird die fast
       fertig geschnitzte Puppe des nachts von einer mitleidigen Fee zum Leben
       erweckt. Am nächsten Morgen zeigt sich sogleich die diabolische Dimension
       dieses „Frankenstein’schen“ Vorhabens, [1][tote Materie zum Leben zu
       erwecken]. Denn Pinocchio fängt an, in unschuldiger Begeisterung die
       Haushaltsgegenstände in ihrem Gebrauch zu entdecken und dabei mit dem
       Hammer jede Menge Glasbehälter zu zerdeppern.
       
       ## Unlackiert und unbekleidet
       
       Unfertig sieht diese Puppe aus, unlackiert und unbekleidet, die Haare wie
       aus der Maserung herausgewachsen. Zugleich ist dieser Pinocchio wunderbar
       animiert, durch Stop-Motion-Technik in angemessen mechanische
       Klapperbewegung gesetzt. Die für ihre Innovationen im Puppenspiel gefeierte
       Jim-Henson-Company ist als Produzent beteiligt.
       
       Und anders als in Matteo Garrones „Pinocchio“ von vor drei Jahren, in dem
       Schauspieler wie [2][Roberto Benigni] in Fleisch und Blut an der Seite des
       computeranimierten Titelhelden spielten, um den Unterschied zwischen Mensch
       und Puppe zu markieren, sind bei del Toro sämtliche Figuren leicht
       mechanisch-steife „Puppen“.
       
       Ganz nach dem [3][Stil del Toros ist dieser „Pinocchio“ in düsteren Farben
       gehalten und bietet dem Unheimlichen einigen Raum]. Was nicht allein der
       Neigung des Regisseurs geschuldet ist, vielmehr hebt dieser die harten und
       brutalen Facetten von Collodis Buch hervor, das an Grausamkeit den Märchen
       der Gebrüder Grimm in nichts nachsteht.
       
       ## Argloser Hampelmann
       
       Während Collodis Pinocchio ein ebenso argloser wie durch Mangel an
       Disziplin leicht vom Weg abzubringender „Hampelmann“ ist, zeichnet del Toro
       die Figur komplexer und findet einen historischen Ort für die gezeigte
       Gewalt. Dieser Pinocchio ist im aufkommenden Faschismus einerseits ein
       anarchischer Unruhestifter, andererseits fallen seine Vorzüge für den Krieg
       schon bald dem Podestà, dem Ortsvorsteher, auf. Pinocchio hat sich nämlich
       als unsterblich erwiesen, was ihn in Podestàs Augen zum perfekten Soldaten
       macht.
       
       Für die „Unsterblichkeit“ Pinocchios hat sich del Toro eine wunderbar
       makabre Szene ausgedacht, in der die bei einem Unfall verunglückte
       Holzfigur im Jenseits auf die Fee Sprezzatura trifft, die ihm eröffnet,
       dass er nach kurzer Zeit unter die Lebenden zurückkehren wird, und das
       immer wieder. Diese überirdische Macht erscheint Pinocchio als blau
       schimmerndes Lichtwesen in einem finsteren Saal voller Sanduhren, sanft
       gebieterisch gesprochen von Cate Blanchett.
       
       Seinen politischen Hintergrund deutet der Film dezent an. So weicht auf
       einer Hausmauer in Gepettos Dorf eine Wandmalerei zum Erntedankfest
       unauffällig dem Konterfei des „Duce“ und dessen Losung „Credere, obbedire,
       combattere“ – „Glauben, gehorchen, kämpfen“.
       
       ## Pinocchio beim Militär
       
       Bald danach gehen die leisen Töne verloren und die Erzählung landet im
       Zweiten Weltkrieg. Bomben fallen, Pinocchio wird eingezogen, überlebt einen
       Angriff auf seine Kaserne. Als Nächstes soll er für den Puppenspieler Graf
       Volpe in dessen Truppe als Hauptattraktion auftreten, vor Mussolini, der
       Puppen mag.
       
       Pinocchios Darbietung stellt sich nicht als die von Volpe erhoffte Feier
       des Diktators heraus, sondern als deftiger Spott in Form einer von
       Pinocchio gesungenen Varieté-Nummer: Ein Teil des Films ist als Musical
       konzipiert, der Komponist Alexandre Desplat ist bemüht, an klassische
       Vorbilder des Genres anzuknüpfen. Trotz eingängiger Melodien bleibt wenig
       davon hängen.
       
       An die großen optischen Vorzüge des Films reicht die Musik nicht heran. Was
       nichts daran ändert, dass del Toro der Vorlage mit seiner freien Adaption
       in vieler Hinsicht gerechter wird als manch andere Verfilmung.
       
       9 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Tim Caspar Boehme
       
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