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       # taz.de -- Nachbarstädte Potsdam und Berlin: Die schönere Schwester
       
       > Zwischen Potsdam und Berlin lag früher die Grenze zwischen zwei
       > Deutschlands, heute nur noch eine kulturelle. Zwei taz-Redakteur:innen
       > schauen hinüber.
       
       Potsdam wurde geschaffen, um zu imponieren. Das Staunen über diese Stadt
       verlernt man nie, sagt unsere Autorin Heike Holdinghausen: Auch nach 20
       Jahren nicht. 
       
       Geografisch-mathematisch ist die Beziehung zwischen den beiden Städten ein
       Phänomen. Von Berlin nach Potsdam ist es nämlich weiter als umgekehrt. Lädt
       ein Berliner eine Freundin aus Potsdam auf ein Bier in eine Kneipe ein,
       schlägt er vor, was in der Hauptstadt gerade angesagt ist: was Cooles in
       Neukölln vielleicht. Von Potsdam nach Neukölln gibt es keine direkte
       S-Bahn-Linie, man gondelt ewig, unter einer Stunde ist nicht. Macht man
       aber trotzdem. Würde die Potsdamerin ihren Berliner Freund nun auf einen
       Gegenbesuch einladen – auf ein Bier in der Potsdamer Innenstadt – er wäre
       konsterniert. So weit rausfahren! Für ein Bier! Berliner:innen kommen
       nach Potsdam, um einen Sonntagsspaziergang zu machen: als Tagesausflug.
       
       Dafür können sie durch den Grunewald die Königsstraße herunter nach
       Südwesten fahren und Auto oder Fahrrad schließlich am Straßenrand
       abstellen. Rechter Hand liegen Schloss und Schlosspark Glienicke, direkt an
       der berühmten Spionage-Brücke. Streng genommen ist das noch Berlin, aber
       doch eigentlich eher ein Potsdamer Vorgarten. Ein Spaziergang könnte nun
       etwa über [1][die Glienicker Brücke] in den Neuen Garten führen mit
       Marmorpalais oder Schloss Cecilienhof, oder aber an der Havel entlang, mit
       Blick auf Sacrower Heilandskirche und Pfaueninsel.
       
       Wer den Park allerdings rechts liegen lässt und sich links durch die Büsche
       schlägt, stößt nach kurzer Wanderung unter Bäumen auf die frisch sanierten
       Schweizerhäuser in Klein-Glienicke. Das ist, versteckt und abgelegen, doch
       ein Teil Potsdams, über eine Parkbrücke mit Babelsberg verbunden. Von der
       aus hat man den schönsten Blick auf Potsdam, genauer, auf die Berliner
       Vorstadt, und zwar auf deren Wasserseite. Bunte Häuser + Tiefer See =
       Urlaub. [2][Diese kunstvolle Landschaft] ist angelegt, um zu imponieren, zu
       gefallen, nach jeder Biegung staunen. Das Staunen verlernt man nie, auch
       nach 20 Jahren nicht.
       
       Natürlich ist das der wesentliche Grund, in Potsdam zu wohnen: Man kann
       hier bequem für einen Marathon üben, ohne das Weltkulturerbe zu verlassen.
       Ein bisschen nervt das bisweilen deshalb, weil die Schlösser und Gärten
       sich ständig selbst zu wichtig und für die Stadt als Ganzes nehmen. Seit
       Jahren säbelt die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, Herrin und
       Hüterin der Pracht, in den Parks Äste ab oder besteht auf knickbaren
       Flutlichtmasten für Fußballstadien, um die berühmten Potsdamer Sichtachsen
       freizuhalten. Wem die Schlösserstiftung vorwirft, er verstelle den freien
       Blick von einem Türmchen aufs andere, der hat in Potsdam ein echtes
       Problem. Bewohner:innen betrachtet die Stiftung als Nervensägen: Sie
       fahren Fahrrad auf historischen Wegen, hinterlassen Müll im Kulturerbe und
       drapieren ihre hässlichen Körper hinein, womöglich noch in Badehose.
       
       Nun gehört es zur guten Potsdamer Dialektik, genüsslich den Blick schweifen
       zu lassen und bei den Kommunalwahlen „Die Andere“ zu wählen. Die wirbt mit
       Plakaten wie „Die Stadt ist keine Sichtachse“ oder „Die Stadt ist keine
       Kapitalanlage“ oder „Die Stadt ist kein Museum“. Bei den Kommunalwahlen vor
       drei Jahren erreichte sie mit 10,3 Prozent nur 2,1 Prozentpunkte weniger
       als die CDU und mehr als die AfD oder die FDP. SPD, Grüne, Linke und Die
       Andere haben in der Stadtverordnetenversammlung eine hübsche
       Zweidrittelmehrheit. Leider machen sie nicht viel daraus.
       
       Genau wie die Mehrheit der Stadtgesellschaft sind sie damit beschäftigt,
       über die Treppenanlagen ihres neu aufgebauten barocken Stadtschlosses zu
       streiten (sind nicht original!) oder darüber, wie viel Geld aus dem klammen
       Haushalt in den Uferweg am Griebnitzsee fließen soll, den Anwohner gesperrt
       haben (das war der Postenweg für die Grenzsoldaten!). Und ab und an kommt
       einer der Millionäre oder Milliardäre, die sich die ehemalige
       Preußenresidenz als Wohnsitz erkoren haben, und beendet jede Debatte, indem
       er (sic!) einfach ein paar Millionen Euro auf den Tisch legt und ein altes
       Schlosstor wieder errichtet, ein Restaurant als Museum umbaut oder einen
       Park anlegt.
       
       Das kritisch zu sehen, gilt in Potsdam als undankbar oder Gejammer auf
       hohem Niveau. Doch die Verbindung von viel Geld und dem Anliegen, Potsdam
       als Postkartenmotiv wiederherzustellen, führt zu Stillstand: Innovationen,
       die man aus südwestdeutschen Unistädten – und aus Berlin – kennt, die in
       Richtung sozialökologische Transformation wenigstens trippeln, fehlen in
       Potsdam, trotz eines ganzen Haufens renommierter Klimaforschungsinstitute
       in der Stadt. Diskurse über autofreie Viertel, Zero-Waste-Konzepte oder
       energieautarke Stadtviertel gehen unter – obwohl Potsdam wächst, viel
       ausprobieren und richtig machen könnte. Die Potsdamer Verwaltung aber
       quietscht fast genauso laut wie die in Berlin und ist mit dem Wachstum
       überfordert. Und genau wie in Berlin sind auch in Potsdam die Stadtviertel
       der Reichen und der Armen trennscharf Kante an Kante genäht. Daraus ergeben
       sich aber nicht dieselben Aggressionen, die Spannungen sind geringer.
       
       Es melden sich keine Familien aus Babelsberg ab, weil ihre Kinder in der
       Platte im Zentrum Ost zur Schule gehen sollen. Und auch wenn die Verwaltung
       zerspart wurde – Wahlen kann sie noch organisieren, die Müllabfuhr
       funktioniert, es verschimmeln keine Wohnblöcke. Außerdem fängt die
       Zivilgesellschaft viel auf. Wenn Flüchtende kommen, egal woher, organisiert
       sie sich, zusammen mit der Verwaltung, und besorgt Unterkünfte,
       Begegnungsstätten und Kitaplätze. Versuche, Pegida-Ableger aus Dresden in
       Potsdam zu etablieren, sind schnell und kläglich gescheitert.
       
       Was ist das also mit dieser Residenz im Berliner Südwesten? Preußen-Disney?
       Reichen-Ghetto? Luxus-Schrebergartenkolonie für Berliner:innen, denen Mitte
       zu voll wird? Und ohne das dreckige Berlin in der Nähe gar nicht zu
       ertragen? Bis vor zwei Jahren hätte man das so sehen können. Aber seit es
       nicht mehr nötig ist, jeden Tag zur Arbeit nach Berlin zu pendeln; seit
       volle S- und U-Bahnen noch unangenehmer geworden sind, als sie eh schon
       immer waren – da zeigt es sich, dass man in Potsdam schlicht in einer
       schönen, mittelgroßen Stadt wohnt. Groß genug für ausreichend Ärzte,
       Bibliothek und Tanzzentrum, klein genug, abends zufällig Bekannte im
       Restaurant zu treffen. Das Theater übrigens liegt an der Schiffbauergasse,
       direkt am Tiefen See. In der Pause sitzt man auf der Treppe am Ufer und
       schaut herüber auf den Babelsberger Park. Den Blick kann man mit Geld gar
       nicht bezahlen.
       
       ## … ist vielleicht doch nicht Berlin
       
       Potsdam bestach einst durch seinen maroden Charme und die Lesbarkeit
       brandenburgisch-preußischer Geschichte. Dann wurde sie hochnäsig. Kein Ort
       zum Leben, findet unser Autor Uwe Rada – obwohl er selbst mal mit dem
       Gedanken geliebäugelt hat 
       
       Es war das Postkartenpotsdam, das mich schon zu Mauerzeiten fasziniert
       hatte. Der Blick auf die [3][Heilandskirche in Sacrow] beim Spazieren am
       Havelufer. Oder das Babelsberger Schloss mit seinen Türmen im Tudor-Stil.
       Was für ein Kontrast zum erzwungenen Halt des Interzonenzugs in
       Griebnitzsee. Blasse DDR-Grenzer patrouillierten mit Schäferhunden am
       Bahnsteig. Preußen, dachte ich damals, pflegt noch immer beides: Den Hang
       zum Schönen und zum Soldatischen. Wie gut, dass es da Westberlin und seine
       Nischen gab, in denen man sich herrlich verstecken konnte.
       
       Nach dem Fall der Mauer ließ ich die Dialektik fahren und erlag dem
       Potsdamer Charme. In Sanssouci begriff ich, was Friedrich hätte sein
       können, wenn er nicht „der Große“ geworden wäre. Das Neue Palais, das er
       nach dem Siebenjährigen Krieg errichten ließ, war dann nicht mehr
       sorgenfrei, sondern machtgeil. Vom Ende Preußens erzählten mir das Schloss
       Cecilienhof und die Villen am Griebnitzsee, in denen Stalin, Churchill und
       Truman logierten. In Potsdam konnte ich brandenburgische und preußische
       Geschichte lesen, während mir in Berlin Schritt auf Schritt die Gründerzeit
       und die DDR über den Weg liefen.
       
       In diese Zeit fiel auch der Gedanke, nach Potsdam zu ziehen. Natürlich wäre
       es eine Flucht gewesen. Aber jetzt, ohne Mauer, war vieles möglich, an das
       sich zuvor ein Gedanke verboten hatte. Warum also nicht nach Potsdam
       ziehen? Zum Beispiel ins Holländische Viertel, ein bauliches Denkmal
       preußischer Toleranz, das die Bürgerbewegung vor der Sprengung gerettet
       hatte. Oder nach Babelsberg auf der anderen Seite der Havel, wo schon die
       Alternativkultur sichtbar wurde?
       
       [4][Raus aus dem lauten Berlin] wäre ich dann, näher an der Natur und immer
       noch nahe an Berlin, der großen Schwester.
       
       Bevor ich mich zu diesem Schritt entschließen konnte, war die kleine
       Schwester dabei, flügge zu werden.
       
       Schnell wuchs sie heran und wurde dabei immer hochnäsiger. Wollte schnell
       in neue Kleider schlüpfen und die alten, abgetragenen, die ich so an ihr
       mochte, in die Ecke werfen.
       
       Es war die Zeit der großen stadtpolitischen Debatten. Wieviel DDR darf in
       der Innenstadt bleiben? Soll das Stadtschloss wieder aufgebaut werden und
       mit ihm der Alte Markt? Und was ist schlimm am Wiederaufbau der
       Garnisonkirche, wo sich Hitler und Hindenburg die Hand schüttelten und die
       Alleinherrschaft der Nazis besiegelten?
       
       Immer eigener wurde die kleine Schwester und immer exklusiver in ihrem
       Auftreten. Warf sich in Schale, posierte mit Größen wie Günther Jauch, die
       ihr das wiederaufgebaute Fortunaportal des Stadtschlosses spendierten, oder
       Hasso Plattner, dem Mäzen des Museums Barberini.
       
       Die kleine Schwester lockte den Geldadel an und warf den verarmten Adel aus
       dem Haus. Nicht einmal lustig machte sie sich über sich selbst, denke ich
       heute, und ahne doch, dass sie wohl nie Humor gehabt hat, auch nicht, als
       sie noch klein war.
       
       Wann genau ich meinen Fluchtplan aufgegeben habe, weiß ich nicht mehr. Ich
       wusste nur, dass ich irgendwann bei meinen Besuchen in Potsdam diesen
       Erleichterungsgedanken hatte: Puh, gut, dass ich das nicht gemacht habe.
       Der Kelch ist an mir vorbeigegangen. Selbst wenn mich die kleine Schwester
       nicht herausgeworfen hätte und ich mir die Stadt hätte leisten können, wäre
       ich doch in ein Museum gezogen. Der physische Staub war zwar weg, aber
       neuer, geistiger Staub war dazugekommen.
       
       Was für ein Kontrast war dagegen die große Schwester. Ja, auch sie hatte
       sich schick gemacht, aber aller Dünkel war ihr fremd. Lockerer wurde sie
       sogar mit der Zeit, weltgewandter, schaute mehr in die Zukunft als in die
       Vergangenheit. Berlin war Großstadt und wurde zur Metropole. Potsdam wurde
       Großstadt und wurde zur Provinz.
       
       Inzwischen bin ich mir auch bei Berlin nicht mehr sicher. Auch Berlin hat
       inzwischen sein Stadtschloss, und die städtebaulichen Debatten ähneln mehr
       und mehr denen von Potsdam in den neunziger Jahren. Um Rekonstruktion geht
       es da, um die Sehnsucht nach guten Stuben und den nostalgischen Blick in
       die Vergangenheit.
       
       Und auch das: Je mehr die Innenstadt zur begehrten Wohnlage betuchterer
       Familien wurde, desto mehr Dorf kam in die Stadt. Das Dorf klagte die Clubs
       weg und die Proberäume, um endlich Ruhe zu haben. Selbst Gated Communities
       gibt es inzwischen. Dabei hatte ich mich noch lustig gemacht über Potsdam,
       als dort der erste dieser abgeschotteten und aseptischen Lebensträume
       hochgezogen worden war.
       
       Auch eine Metropole kann zur Provinz werden, da bin ich mir inzwischen
       sicher. Seitdem bin ich ganz entspannt, wenn ich in Potsdam bin. Freue
       mich, dass das Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte inzwischen
       mehr Coolness verbreitet als das Drumherum am Neuen Markt. Besuche gerne
       eine Freundin, wenn sie in Sacrow ist.
       
       Erwachsen ist die kleine Schwester jetzt und hat selbst schon Kinder, um
       die sie sich kümmern muss. Mein Problem ist das nicht mehr. Das
       Postkartenpotsdam habe ich aus den Augen verloren.
       
       30 Nov 2022
       
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