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       # taz.de -- Armut in Deutschland: Spardruck trifft auch die Mitte
       
       > Die Inflation verschärft die soziale Lage, viele Leute müssen massiv
       > sparen. Steigt die Armutsquote? Das Institut DIW hält das für nicht
       > erwiesen.
       
   IMG Bild: Extremform der Armut: Szene von der Bahnhofsmission Dessau
       
       Berlin taz | Wegen der [1][Inflation] können viele Bürgerinnen und Bürger
       mit geringen Einkommen ihre Grundbedürfnisse nicht mehr erfüllen. Sie
       müssen beispielsweise ihre Ausgaben für Bekleidung und Schuhe einschränken,
       erklärte am Donnerstag die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung. Diese
       Situation betreffe „mehr als zwei Drittel der Befragten mit niedrigeren
       Haushaltseinkommen unter 2.000 Euro netto im Monat“, sagte Bettina
       Kohlrausch, die Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen
       Instituts (WSI) der Stiftung.
       
       Die Organisation will zeigen, was [2][Armut] konkret bedeutet und wie sie
       sich in der aktuellen Lage verschärft. Dazu hat sie neue Daten vorgelegt,
       die unter anderem aus einer Umfrage vom August 2022 stammen. Demnach
       „wollten knapp 35 Prozent“ der Geringverdiener „sogar beim Kauf von
       Lebensmitteln kürzer treten“. Kohlrausch hielt es deshalb für „sehr
       plausibel“, dass die „wirtschaftliche Polarisierung“ zwischen [3][Leuten
       mit wenig Geld und Wohlhabenden] weiter zunehme. „Der Spardruck reicht
       deutlich in die Mittelschicht hinein“, sagte die WSI-Direktorin.
       
       Besonders für Privathaushalte, die arm sind oder durch Armut gefährdet,
       verschärfe sich die Situation momentan. Schon vor Beginn der aktuellen
       Krise konnten sich gut 14 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze keine
       neue Kleidung leisten, schreibt das Institut in seinem neuen Bericht zur
       Verteilung der Einkommen in Deutschland. Fünf Prozent der Armen konnten
       ihre Wohnungen nicht richtig heizen, und die Hälfte musste auf
       Urlaubsreisen verzichten.
       
       Diese Prozentangaben beziehen auf den Anteil der Bundesbevölkerung, der
       weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Das sind
       ungefähr 1.300 Euro pro Monat für einen Singlehaushalt. Wer weniger hat,
       gilt als armutsgefährdet oder arm.
       
       ## Prekäre Beschäftigung, Armut, Vertrauensverlust
       
       Der Verteilungsbericht präsentiert weitere eindrucksvolle Zahlen. Während
       zehn Prozent der Gesamtbevölkerung mit befristeten Arbeitsverträgen
       arbeiten, sind es unter den Armen über 30 Prozent – ein Hinweis auf den
       Zusammenhang zwischen prekärer Beschäftigung und Armutsgefährdung. Während
       Arme durchschnittlich 45 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung haben, sind
       es unter der Gesamtbevölkerung 66 Quadratmeter.
       
       Diese Situation habe auch Rückwirkungen auf das Vertrauen in die
       gesellschaftlichen Institutionen, sagte Kohlrausch. „Lediglich 68 Prozent
       der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, halten die Demokratie für
       die beste Staatsform, nur 59 Prozent finden, die Demokratie in Deutschland
       funktioniere gut“, heißt es im Bericht. „Armut und soziale Polarisierung
       können die Grundfeste unseres demokratischen Miteinanders ins Wanken
       bringen, vor allem dann, wenn sie sich verfestigen“, sagte die
       WSI-Direktorin.
       
       Zur Abhilfe forderte sie eine Politik, die einen „höheren Mindestlohn“
       anpeile. Die augenblickliche Untergrenze der Bezahlung von zwölf Euro
       brutto pro Stunde sei zwar ein Fortschritt – dieser reiche jedoch nicht
       aus. Auch der Regelsatz des Bürgergeldes müsse weiter angehoben werden. Ab
       kommenden Januar soll er bei 502 Euro für alleinstehende Arbeitslose
       liegen.
       
       ## Unterschiedliche Interpretation der Entwicklung
       
       Grundsätzlich beklagt die Hans-Böckler-Stiftung, dass die Armutsrisikoquote
       – wer weniger Geld zur Verfügung hat, ist armutsgefährdet oder arm – immer
       weiter ansteige. 2019 habe sie 16,8 Prozent der Bevölkerung erreicht.
       
       Darüber, ob dieser Befund stimmt, läuft allerdings eine
       wissenschaftlich-politische Auseinandersetzung. Es gibt unterschiedliche
       Interpretationen der Entwicklung in den vergangenen Jahren. So hat Markus
       Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) berechnet,
       dass die Quote 2020 bei 16,2 Prozent lag. Bis 2015 sei sie gestiegen, dann
       aber nicht mehr, jedenfalls nicht statistisch relevant. Das hänge unter
       anderem mit der Einführung des Mindestlohns zusammen, so Grabka: „Der
       Sozialstaat ist erfolgreich.“
       
       24 Nov 2022
       
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