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       # taz.de -- Bundespräsident über Emine Sevgi Özdamar: Grenzen überwunden
       
       > Es sei ein fulminantes Erinnerungswerk: Auszug aus der Laudatio von
       > Frank-Walter Steinmeier auf Emine Sevgi Özdamar zum Schillerpreis.
       
   IMG Bild: Emine Sevgi Özdamar, die Preisträgerin des Schillerpreises, steht zur Verleihung auf der Bühne
       
       Dass man Grenzen akzeptieren muss, dass man sie aber auch überschreiten,
       überwinden, sich von ihnen befreien und sich über sie hinwegsetzen muss und
       dann sehr frei sein kann, das gehört zu den existenziellen Erfahrungen im
       Leben. Und vielleicht liegt darin ja eine Annäherung an Ihr Werk, liebe
       Frau Özdamar. Denn um Grenzen, um die geht es in Ihrem Leben – und in Ihrem
       künstlerischen Schaffen.
       
       Sie haben viele Grenzen überschritten und überwunden: geografische,
       politische, aber auch kulturelle, ästhetische, sprachliche. Räume sind von
       Schatten begrenzt, und die Menschen darin werden von diesen Schatten
       bedrängt. Aber ihre Konturen, ihre Identität werden dadurch umso
       deutlicher. In diesen Räumen, mit diesen Räumen eröffnen sich auch neue
       Freiheiten.
       
       Mitte der 70er Jahre verließen Sie als junge Schauspielerin die Türkei und
       gingen wieder nach Deutschland, wieder nach Berlin, in das geteilte und vom
       Krieg gezeichnete Berlin, wo Sie schon einmal als sehr junge Frau gelebt
       hatten. Nach dem Militärputsch verdunkelten Gewalt, Unfreiheit und Willkür
       den Alltag der Türkei bis in den letzten Winkel hinein.
       
       Sie war jetzt wieder ein Land, wo das Töten erlaubt war. „Ich werde gehen“,
       sagt die Erzählerin in Ihrem neuesten Roman – trotz all der
       widerstreitenden Gefühle, die sie hat. Und gegangen sind auch Sie, liebe
       Frau Özdamar. Gehen, das hieß damals, Ihre Familie, Ihr Land, Ihre Sprache
       zu verlassen.
       
       ## In der Türkei mit zwölf Jahren auf der Bühne
       
       Zu spielen und ganz Mensch zu sein, erst am Theater, später in Filmen, das
       hat Ihr Leben und Ihr künstlerisches Werk geprägt. In der Türkei, wo Sie
       mit zwölf Jahren zum ersten Mal auf einer großen Bühne standen und später
       die Schauspielschule in Istanbul besucht haben. In Berlin, wo Sie mit
       [1][Benno Besson und Matthias Langhoff an der Volksbühne] arbeiteten, im
       damaligen Ost-Berlin. Auch da überwanden Sie eine Grenze, eine, die
       besonders schwer zu überwinden war: die Mauer.
       
       Sie lebten in West-Berlin und arbeiteten in Ost-Berlin, gingen in der
       geteilten Stadt hin und her mit großer Selbstverständlichkeit. Und:
       Selbstverständlich wurde dort auf Deutsch inszeniert. Jener Sprache also,
       von der Sie kein Wort verstanden, als Sie 1965, mit 18 Jahren, zum ersten
       Mal nach Deutschland gekommen waren.
       
       Es war das Deutschland, in das nach dem Anwerbeabkommen zwischen der Türkei
       und Deutschland aus dem Jahr 1961 Zehntausende von Menschen in überfüllten
       Zügen ankamen, um hier zu arbeiten. Gastarbeiter nannten wir Deutsche sie
       damals.
       
       Sie, liebe Frau Özdamar, haben dieses zusammengesetzte Wort wunderbar
       ironisch und lakonisch zugleich in seine Bestandteile zerlegt: Bei einem
       „Gastarbeiter“ denken Sie an zwei Personen, an einen Gast und einen, der
       arbeitet. Eine Erfahrung, die Sie auch selbst gemacht und später
       literarisch umgesetzt haben. Ein paar Monate lang verdienten Sie Ihr Geld
       in einer Fabrik in West-Berlin.
       
       ## So viele Welten, bevölkert von so vielen Menschen
       
       Es folgten Aufenthalte in Paris, in Avignon, in Bochum, Frankfurt,
       Düsseldorf, wo Sie als Schauspielerin, Regisseurin und Autorin arbeiteten –
       und all diesen Orten und Menschen, denen Sie dort begegnet sind, begegnen
       auch wir zuerst in Ihren Theaterstücken und später in Ihren Romanen.
       
       In „Ein von Schatten begrenzter Raum“ begegnen wir Ihnen noch einmal neu.
       Welch fulminantes Erinnerungswerk! Es nimmt uns mit auf eine Reise zwischen
       der Türkei, Deutschland und Frankreich, es entführt uns in so viele Welten
       und ist bevölkert von so vielen Menschen, dass einem manchmal fast
       schwindelig werden kann. Immer sind Sie den Menschen, Ihren Figuren
       zutiefst zugewandt.
       
       Und immer sehen wir als Leserinnen und Leser all diese Welten und Menschen
       mit einem fremden und vertrauten Blick zugleich, der sich die Welt
       anverwandelt. Einem Blick, wie man ihn wohl nur haben kann, wenn man sich
       wie Sie zwischen diesen Welten hin- und herbewegt und in mehreren Ländern,
       an vielen Orten gewohnt, ja vielleicht sogar seine Heimat hat.
       
       Heimat, dieser in der deutschen Geschichte so oft missbrauchte Begriff,
       lässt sich nicht leicht fassen und schon gar nicht verordnen. Es ist ein
       schillernder Begriff, einer, der sich mit Gefühlen, Erinnerung und
       Vertrautheit verbindet. Menschen sind in der Geschichte immer gewandert.
       Und auch in unser Land wandern seit Jahrhunderten – und vor allem in den
       letzten Jahrzehnten – Menschen zu.
       
       Sie suchen hier eine neue Heimat. Und sie alle bringen ihre Heimat mit. Ich
       bin überzeugt, dass ein Mensch mehrere Heimaten haben kann, die er im
       Herzen trägt. Heimat gibt es auch im Plural!
       
       ## Die flirrende Bohème in Paris
       
       Und so habe ich auch Ihr Buch gelesen, liebe Frau Özdamar. Dieses Buch ist
       auch eine Suche nach einer längst vergangenen, einer für Sie – oder die
       Erzählerin – auch sehr glücklichen Zeit. Sie entführen uns darin in das
       graue Berlin der Mauerjahre – und in die im Gegensatz dazu für Sie
       flirrende Bohème im Paris der Siebziger und Achtziger. Sie entführen uns in
       ein Nachkriegseuropa, das zumindest westlich des Eisernen Vorhangs geprägt
       war vom Glauben an Utopien und an die Kraft der Kunst.
       
       Das noch nicht erschüttert wurde von islamistischen Terroranschlägen und in
       dem noch nicht Tausende von Flüchtlingen tot auf dem Grund des Mittelmeeres
       lagen. In diesem Teil Europas machte im Rückblick von heute aus „die Hölle
       eine Pause“, so beschreiben Sie es. Aber es ist auch ein Europa der
       Exilanten und der Fremdheit. Eines der Toten und der Trauer.
       
       Deutsch, das ist für Sie, liebe Frau Özdamar, die Sprache, in der, wie Sie
       es so wunderbar beschreiben, die Wörter keine Kindheit haben, anders als
       das Türkische. Und doch entschieden Sie sich für diese Sprache, mit einer
       Radikalität, die ich bewundere.
       
       Sie verschlangen deutsche Theaterstücke, die deutsche Literatur geradezu.
       Sie wohnen, so haben Sie es immer wieder gesagt, in deutschen
       Schriftstellerinnen und Dramatikern: in Heinrich Heine, Bertolt Brecht,
       Heinrich Böll, Herbert Achternbusch, Franz Xaver Kroetz, Thomas Brasch,
       Hannah Arendt und vielen mehr.
       
       Sie, die Sie Ihre Heimat verloren hatten, wurden Ihnen zur Heimat. „Ich
       liebte es, in einem Land zu leben, das lebensfähig war“, schreiben Sie.
       „Ich hatte ja kein lebensfähiges Land. Deswegen wohnte ich jetzt in
       deutschen Schriftstellern.“ Eine schönere und zugleich traurigere
       Liebeserklärung kann ich mir nur schwer vorstellen.
       
       ## Die „Mutterzunge“
       
       Die Sprache, die Muttersprache, die Mutterzunge zu verlieren, das ist eine
       existenzielle Erfahrung für jeden Menschen, der sein Land verlassen muss,
       und das gilt erst recht für Schriftstellerinnen und Schriftsteller. „In
       meiner Sprache heißt Zunge: Sprache. Zunge hat keine Knochen, wohin man sie
       dreht, dreht sie sich dorthin“, heißt es in Ihrem ersten Erzählband
       „Mutterzunge“.
       
       Die Sprache und damit ein Stück der eigenen Identität zu verlieren, das ist
       und bleibt eine existenzielle Erfahrung, die in vielen Werken unserer
       neueren Literatur eine Rolle spielt. Sie, [2][liebe Emine Sevgi Özdamar,
       Sie haben eine neue Sprache gefunden] – und das im doppelten Sinne. Sie
       waren eine der ersten Schriftstellerinnen aus der Türkei, die auf Deutsch
       schreiben. Schreiben? Auch das ist nur eine Annäherung.
       
       Wenn ich mir dieses Bild zu eigen machen darf: Sie wohnen in der deutschen
       Sprache, und das so meisterhaft wie nur wenige, deren Muttersprache Deutsch
       ist. Und auch wenn Sie sich selbst nicht in dieser Rolle sehen: Sie haben
       damit viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller in unserem Land
       inspiriert und ihnen Mut gemacht, deren Mutterzunge ebenfalls nicht Deutsch
       ist und deren Werke heute unsere Literatur bereichern. Und das zu einer
       Zeit, als der Begriff migrantisch oder migrantische Literatur noch längst
       nicht gebräuchlich war.
       
       Aber: Ihre Kunst mit dem Stempel migrantische Literatur zu versehen, auch
       damit würde man Ihnen in keiner Weise gerecht – und auch nicht den vielen
       anderen Künstlerinnen und Künstlern, die aus unserer Literatur gar nicht
       mehr wegzudenken sind. Solche Stereotype und Denkmuster haben viel zu lange
       unsere Wahrnehmung geprägt.
       
       So ironisch wie scharfsichtig haben Sie, liebe Frau Özdamar, mit dem Bild
       gespielt, das sich viele Deutsche von Ihnen gemacht haben – und wenn ich
       sage spielen, ist das nicht nur literarisch, sondern auch ganz wörtlich zu
       verstehen: Als türkische Frau in Deutschland waren Sie immer sofort die
       türkische Putzfrau – anders konnte es ja gar nicht sein, selbst als
       Schauspielerin auf der Bühne. Und Sie haben sie gespielt, diese türkische
       Putzfrau, uns mit Ironie und Witz den Spiegel vorgehalten!
       
       ## Die Ablehnung als „Fremde“
       
       Mit Stereotypen belegt zu werden, auf Ablehnung als „Fremde“ zu stoßen,
       diskriminiert, diffamiert, ausgegrenzt oder gar Opfer von Hass und Gewalt
       zu werden: Das ist eine Erfahrung, die viele Menschen, die zu uns nach
       Deutschland gekommen sind, teilen. „In der Fremde wird der Mensch auf sich
       zurückgeworfen, weil er andauernd daran erinnert wird, dass er fremd ist“,
       warnt auch der Chor der Krähen in [3][„Ein von Schatten begrenzter Raum“].
       
       Auch Menschen, die schon in der zweiten, dritten oder vierten Generation
       hier leben, berichten mir immer wieder, wie sehr sie darunter leiden, als
       „Fremde“ betrachtet, nicht als Teil unserer Gesellschaft anerkannt zu
       werden.
       
       Die Menschen, die zu uns gekommen sind, haben nicht nur sich verändert. Das
       mussten sie. Sie haben auch unser Land, sie haben uns verändert. Ohne sie
       wäre Deutschland nach dem Krieg nicht zu Wohlstand gekommen. Sie alle haben
       auch unsere Kultur, unsere Musik und Literatur, unsere Küche, unsere
       Lebensgewohnheiten verändert und bereichert.
       
       Sie haben Deutschland zu einem offeneren und vielfältigeren Land gemacht.
       Heute sind wir nicht ein Land, in dem Menschen mit Migrationshintergrund
       leben. Nein, wir sind ein Land mit Migrationshintergrund! Eine Realität, zu
       der sich die Deutschen erst spät bekennen sollten!
       
       Alle, die zu uns gekommen sind, haben ihre Geschichte und ihre Geschichten
       mitgebracht. Aber sie werden noch immer viel zu wenig gehört. Ich bin
       überzeugt, dass ihre Geschichten viel stärker Teil unseres gemeinsamen Wir
       werden müssen. Ihre Geschichten sind ein Teil von uns. Sie sind Teil
       unserer Geschichte, unserer gemeinsamen Geschichte.
       
       Wenn ich mir noch etwas wünschen darf: Schenken Sie uns bitte noch viele
       funkelnde, poetische, traurige und komische, überbordende Geschichten!
       Lassen Sie uns als Leserinnen und Leser noch in vielen Ihrer Geschichten
       wohnen, liebe Emine Sevgi Özdamar!
       
       Gekürzte Manuskriptfassung der Rede anlässlich der Verleihung des
       Schillerpreises an Emine Sevgi Özdamar am 27. November in Mannheim.
       
       27 Nov 2022
       
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       Viele Jahre nach ihrem letzten Werk meldet sich Emine Sevgi Özdamar zurück.
       „Ein von Schatten begrenzter Raum“ ist ein reicher, wirbelnder Roman.