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       # taz.de -- Bilanz der Boykottbewegung: Aber für welchen Fußball?
       
       > Die Proteste haben viele mobilisiert, aber von Katar und
       > Ausbeutungssystemen verstanden sie wenig. Wie ginge Boykott besser?
       
   IMG Bild: Vor der WM war die Forderung, die Katar-WM zu boykottieren, in vielen Stadien präsent
       
       Eine seltsame Leere herrscht derzeit in [1][Boykott-Deutschland]. Das
       WM-Turnier in Katar, hochgejazzt zur Schlacht um die Menschenrechte, geht
       erfolgreich seinen Gang. Und während in Deutschland tatsächlich sehr viel
       weniger Fans einschalteten, feiert der Rest der Welt Party. „All die Worte,
       die Empörungen, die Wut über das Turnier in Katar – das soll’s gewesen
       sein?“, fragte ratlos das Magazin 11Freunde. Der deutsche Zorn blieb fürs
       Weltpublikum nur eine Fußnote, bedeutungslos gegen Marokkos Einzug ins
       Viertelfinale oder die Welle des Panarabismus. Und die Abstimmung mit der
       Fernbedienung entpuppte sich eher als eine Suggestion von
       Mitbestimmungsmacht. Wer im europäischen Fußball die Zeche zahlt, bekommt
       konsequenterweise eine Plattform – demnächst wohl Saudi-Arabien. Was also
       heißt dieser [2][Boykott] für die Zukunft?
       
       Ich habe im Rahmen von Lesungen viele Gespräche auf Boykottveranstaltungen
       geführt, und sie erzählen etwas über diese Zukunft. Es lohnt vielleicht,
       drei Wirkungsebenen zu unterscheiden: Die deutschen Fanszenen, den Staat
       Katar und die Fifa. Unter Fans hat dieser Boykott mehr bewirkt, als viele
       ihm zugestehen. Nie ist es Aktivist:innen gelungen, ein kritisches
       Fußballthema derart in die Gesamtgesellschaft zu tragen. Mit einem
       polarisierenden Aufhänger, einem zeitlich begrenzten Anlass, viel Emotion.
       Und wer im Fußball künftig mobilisieren möchte, hat hier bitteschön eine
       Anleitung – auch für gesamtgesellschaftliche Bündnisse. Erstmals überhaupt
       diskutierten so viele Fans, wie Fußball anders gehen kann. Viele erzählten:
       „Mein Bekannter X ist eigentlich nur Konsument. Jetzt hat er sich zum
       ersten Mal mit sowas auseinandergesetzt.“ Der Katar-Boykott war eine große
       Bildungskampagne.
       
       Zugleich blieb die Ablehnung zu diffus für konstruktive Forderungen,
       gekränkt im eurozentrischen Fußballweltbild („Schlechte Stimmung“,
       „Winter-WM“, „Keine Tradition“). Es entstand eine Eigendynamik des Ekels,
       die irgendwann völlig das Maß verlor. Dass Ultras in Massen zum
       Frauenfußball oder Amateursport gingen, war empowernd, zeugt aber auch von
       einem unterkomplexen Verständnis: das vermeintlich Echte und Bodenständige
       gegen den bösen Kommerz. Es fehlt nicht nur Funktionär:innen, sondern auch
       vielen Organisator:innen von Protest an kritischem Wissen. Sobald es
       um systemische Veränderung geht, bleibt der Fußball resistent. „In den
       Fanszenen hat niemand Interesse, ein anderes System umzusetzen“, sagt mir
       einer. Ein anderer, selbstkritisch: „Ultras werden sich immer nur über die
       Spitze des Eisbergs aufregen, den Willen zu mehr sehe ich überhaupt nicht.“
       
       Keim einer Revolte? Nein, viele Medienberichte und Panels neigten dazu, zu
       nationalisieren. Katar als Schurkenstaat. Bezeichnend an der kenntnisarmen
       Katar-Debatte war auch das völlige Desinteresse, mit der katarischen
       Zivilgesellschaft ins Gespräch zu kommen. Letztlich galt die WM als
       Schlacht zwischen liberaler Demokratie und religiöser Autokratie. Vom
       globalen Ausbeutungssystem verstanden die Deutschen wenig. „Ich würde
       sofort wieder nach Katar gehen“, sagten mir fast alle Migrantinnen, die ich
       interviewte. Obwohl teils schlimm misshandelt, war diese WM für
       Zehntausende auch eine Chance, erging es ihnen besser als im Herkunftsland
       – oft ehemalige Kolonien, die ihre Ländereien, Arbeitskraft und Ressourcen
       an Europäer verscherbeln und wo fast alle Wege nach draußen geschlossen
       sind. Außer an den Golf. Abstrakt bemitleiden mochten die Deutschen diese
       Migrant:innen. Ihre eigene Schuld und die differenzierte Rolle Katars
       begriffen sie nie.
       
       Dieser Boykott war also einerseits eine große Erfahrung der
       Selbstwirksamkeit. Oft aber ohne Bereitschaft, systemisch zu denken. Armut,
       Ausbeutung von Ressourcen und Biodiversität, Klimaschäden, Militäreinsätze,
       Hunger, giftige Müllexporte, Versklavung oder das verweigerte Recht auf
       Migration – all die ausgelagerten Folgen und Voraussetzungen des
       europäischen Wohlstands gelten uns bei Turnieren nicht als
       Menschenrechtsverletzung. Schuld sind die Länder, wo sie sich zutragen. Das
       koloniale Verständnis von Menschenrecht macht es Ausrichtern sehr leicht,
       auf Doppelstandards zu verweisen. Eine Deutsche, die lange in Katar
       arbeitete, erzählte mir, die WM-Kritik habe dort das Gegenteil bewirkt:
       „Viele qualifizierte Zugewanderte in Katar aus dem Globalen Süden, die
       vorher westlich orientiert waren, empfanden die Kritik als rassistische
       Kampagne und sehen den Westen jetzt sehr kritisch. Sie haben sich mit Katar
       solidarisiert.“ Nation Building der anderen Art. In der katarischen
       Gesellschaft zu überzeugen, scherte hier niemanden. Dafür hätte es
       Interesse an Wirkung gebraucht, weniger an Haltung. Klügere Kritik, mehr
       Dialog, Lernbereitschaft.
       
       ## Was tun mit der WM 2026 in Nordamerika?
       
       Und die Fifa? „Eigentlich“, sagt ein weiblicher Fan, „müssten wir ja jetzt
       schon das Turnier in den USA, Mexiko und Kanada in den Blick nehmen, um was
       zu erreichen.“ Sie hat recht: Alles, was arbeitsrechtlich in Katar durch
       die Boykottbewegung erreicht wurde (und es wurde tatsächlich etwas
       erreicht!), gelang im Vorfeld. Aber wie passt das in den hektischen
       Kalender des Weltfußballs, wo jährlich ein Großturnier aufwartet? Und worum
       soll es gehen? „Das Recht auf Abtreibung“, schlägt die junge Frau für die
       US-WM vor. Aber ist es wirklich vorstellbar, dass der DFB in vier Jahren
       mit einer Pro-Choice-Kampagne aufläuft? Das Nationalteam als Debattierclub?
       Eine Druckwelle wie aktuell ist nur möglich bei einem Ausrichter, auf den
       sich alles projizieren lässt, mit allen Untiefen. Das heißt für
       Veränderung: Weniger Fokus auf einzelne Ausrichter. Mehr Fokus aufs System.
       
       Kein Staat wird sich durch Fußball im Grundsatz verändern. Und übrigens,
       wie der Ausschluss Russlands zeigt, auch nicht durch einen Boykott. Wer
       nicht mehr redet, verliert jeden Zugriff und die Möglichkeit, zu lernen.
       Effektiver ist, den Fußball selbst zu verändern. Um Verbündete zu finden,
       müssen wir Probleme systemisch statt national ansprechen, langfristig und
       selbstkritisch. Im Rahmen dieser WM haben viele Fans zum ersten Mal mit
       Arbeitsmigrant:innen etwa aus Nepal diskutiert. Das ist eine große
       Errungenschaft. Ein Fanprojekt überlegt, sie kommendes Jahr wieder
       einzuladen. Das ist der Weg. Wer Veränderung will, muss aber für einen
       grundlegend anderen Fußball bereit sein. Dass es während der Katar-WM um
       mehr ging als oberflächliche Empörung, dieser Beleg steht noch aus. Damit
       das System besser wird, muss der Protest besser werden.
       
       10 Dec 2022
       
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       ## AUTOREN
       
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