URI: 
       # taz.de -- Antisemitismus im Theater: Das geht an die Nieren
       
       > Können 22 Regisseure irren? Nach Stefan Bachmann auf keinen Fall. Der
       > Antisemitismusstreit um Wajdi Mouawads Theaterstück „Vögel“ geht weiter.
       
   IMG Bild: Magdalena Laubisch und Leonard Dick in der Aufführung „Vögel“ im Münchner Metropoltheater
       
       Ist Wajdi Mouawads Stück „Vögel“ antisemitisch oder nicht? Dies ist eine
       Frage, die die deutsche Theaterszene über das Jahr 2022 hinaus beschäftigen
       wird. Denn nach der Absetzung am Münchner Metropoltheater im November haben
       andere angekündigt, an ihren Inszenierungen festhalten zu wollen. Etwa
       Stefan Bachmann, Intendant des Schauspiels Köln. Der Radius der Diskussion
       scheint sich fast täglich zu erweitern.
       
       Bachmann, geboren 1966 in Zürich, zählt zu den Schwergewichten der Branche.
       Seit 2013 leitet er das Schauspiel Köln, bringt dort auch eigene
       Inszenierungen heraus. 2019 etwa Mouawads „Vögel“, für die er positive
       Kritiken bekam. Er sei auf diese Inszenierung heute noch „stolz“, sagt
       Bachmann nun im Deutschlandfunk. Mouawads Stück halte er nicht für
       antisemitisch. Ebenso seine „Vögel“-Inszenierung nicht. Die werde er in
       Köln 2023 erneut zeigen.
       
       Rein formal betrachtet, scheint Bachmanns „Vögel“-Inszenierung
       anspruchsvoll und gelungen. Im kurzfristig anberaumten Streaming des
       Schauspiel Kölns konnte man sie am Sonntag in einer
       „Split-Screen-Filmaufzeichnung“ sehen.
       
       Hervorragende Schauspieler und Technik, handwerklich alles topp – ebenso
       die digitale Aufzeichnung und Bearbeitung durch Kameramann Andreas Deinert.
       Doch die Textgrammatik des Stücks wirkt auch in der Inszenierung eher dünn,
       die politischen Botschaften zweifelhaft.
       
       ## Theater ist kein Uni-Seminar
       
       [1][Was in München zu Kritik und zur Absetzung führte], sollte Bachmann
       jetzt besser nicht einfach zur Seite drücken. Auch wenn so manch prominente
       Stimme nun die Kritiker zur Mäßigung ruft („Ein Theaterstück ist kein
       Uni-Seminar“, Meron Mendel in der SZ). Ja, es waren Studierende jüdischer
       Verbände, die die Münchner Aufführung ansahen und danach kritisierten.
       
       Möglicherweise sind sie klüger, als so einige nun meinen. Laut Verlag der
       Autoren hat Mouawads „Vögel“ im Deutschsprachigen bislang 22
       Inszenierungen erfahren. Erst jetzt, die 22. hat gecrasht.
       
       Wer aber nun die Stückfassung von Mouawads „Vögel“ liest, fragt sich: Warum
       so spät? Ebenso, wer die inhaltlich affirmative Umsetzung von Stefan
       Bachmann in Köln in der Split-Screen-Version gerade sah. Warum erst jetzt?
       
       „Wie ließe sich sonst erklären, dass man nichts lernt?“, heißt es an einer
       programmatischen Stellen in Mouawads „Vögel“. Der 1968 im Libanon geborene
       Wajdi Mouawad legt diese Worte einem seiner erfundenen jüdischen
       Protagonisten in den Mund. Das Mittel der jüdischen Selbstanklage setzt der
       aus einer christlichen libanesischen Familie stammende Autor dramatisch
       wirkungsvoll ein.
       
       ## Aus der Geschichte nichts gelernt?
       
       Das Selbstanklagende, „dass man nichts lernt“ schreibt er den Überlebenden
       des Holocaust und den vertriebenen Juden aus den arabischen Staaten zu, die
       heute in Israel leben. Wie ließe es sich also erklären, schreibt Mouawad
       weiter, „dass es mit jeder Generation von vorn losgeht? Wenn Traumata
       Spuren in den Genen hinterließen, die wir unseren Kindern vererben, glaubst
       du, unser Volk ließe dann heute ein anderes die Unterdrückung erleiden, die
       es selbst erlitten hat?“
       
       Rhetorisch als Frage verkleidet, ist es die vergiftete These, die Mouawads
       Stück grundiert. Jüdische Israelis seien die Nazis von heute, arabische
       Palästinenser erginge es hingegen wie den jüdischen Opfern des Holocaust.
       Eine Auseinandersetzung mit solch ideologischen Bösartigkeiten findet bei
       Mouawad nicht statt. Auch in Bachmanns Inszenierung nicht.
       
       Und so spielen arische Deutsche und Schweizer im Theater einfach die
       aggressiven Nachfahren deutscher Juden. Und auch die Rolle einer Frau
       arabischer Herkunft. Verliebt – in einen wie sich herausstellen soll:
       genetisch gar nicht echten Juden aus New York – ist die Frau arabischer
       Herkunft nach Israel gereist, um die jüdisch-israelische Familie
       kennenzulernen.
       
       Doch sie erfährt nach Mouawads Erzählung und Bachmanns Inszenierung nur
       rassistisch-religiöse Ablehnung. Und so bleibt ihr ihrerseits nichts
       anderes, als sich positiv auf das Arabertum zu beziehen.
       
       ## Holocaustleugnung nicht nötig
       
       Mouawad leugnet den Holocaust nicht. Aber er lässt seine klischeehaft
       gestalteten Theaterjuden selbst behaupten, dass das, was Juden einst im
       Holocaust erlitten, sie nun den arabischen Palästinensern zufügten. Für
       panarabische und panislamische Reaktionäre ist das ethnisch plurale Israel
       der demokratische Stachel im Nahen Osten. [2][Der Mufti von Jerusalem
       kooperierte mit den Nazis], die arabischen Regime griffen Israel an,
       [3][Hunderttausende Juden wurden aus islamisch dominierten Gesellschaften
       vertrieben.]
       
       Doch darüber sprechen arabische Schulbücher nicht. Und auch nicht Mouawad.
       Der führt in seinem Stück die jüdische Orthodoxie vor, die die Mischehe
       eines Juden mit einer Muslimin verhindert. Also BDS, einmal umgekehrt. Doch
       wäre der Boykott der arabisch-islamischen Welt gegenüber der jüdischen
       nicht das größere Thema? Und mutigere, für einen Autor mit libanesischem
       Hintergrund.
       
       Warum sehen Verlage oder Theatermacher wie Stefan Bachmann nicht, dass ein
       Stück wie Mouawads „Vögel“ sich simpelster antijüdischer und
       antiisraelischer Stereotype bedienen? „Meine Welt musste erst vernichtet
       werden, um einen Olivenbaum zu sehen“, die Juden bleiben hier als ewig
       Fremde markiert, die illegitim in Besitz nehmen.
       
       Massaker wie in Sabra und Schatila 1982 im Libanon lastet das Stück –
       plakativ und historisch falsch – einseitig den Israelis an. Das ist
       besonders fahrlässig, die neuen globalisierten Kulturkämpfe haben längst
       auch die europäischen Vorstädte erreicht.
       
       ## Der böse Jude
       
       „Vor drei, vier Jahren war dies das Stück der Stunde“, sagt Bachmann. Doch
       warum erfindet man sich böse Juden, die im arabisch-paternalistischen
       Dispositiv mal kollektiv Land rauben, mal wie in Adania Shiblis viel
       beachteter Erzählung „Eine Nebensache“ die arabische Frau im
       Unabhängigkeitskrieg schänden. Oder wie in Mouawads „Vögel“ im
       Sechstagekrieg 1967 als Israelis ein noch Blut verschmiertes arabisches
       Neugeborenes klauen?
       
       Landraub, Vergewaltigung, Babyklau – wiederkehrende Allegorien, die man je
       nach Inszenierungspraxis als antisemitisch verstehen kann. In Mouawads
       Stück soll der Körper des falschen Juden – den man als arabisches Baby
       raubte und der in fortgeschrittenem Alter den Hirntod erleidet, als man ihn
       mit seiner tatsächlichen Herkunft konfrontiert – im israelischen
       Krankenhaus organisch ausgeschlachtet werden.
       
       Als Araber klauen sie dir auch noch die letzte Niere.
       
       9 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Antisemitimus-Vorwurf-im-Theater/!5896717
   DIR [2] /Zweiter-Weltkrieg-im-juedischen-Palaestina/!5758613
   DIR [3] /Arabische-Juden/!5894964
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Fanizadeh
       
       ## TAGS
       
   DIR Antisemitismus
   DIR BDS-Movement
   DIR Theater
   DIR München
   DIR Israel
   DIR Judentum
   DIR Palästina
   DIR Holocaust
   DIR Libanon
   DIR Antisemitismus
   DIR Juden
   DIR Buch
   DIR Theater
   DIR Identitätspolitik
   DIR Antisemitismus
   DIR Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Debatte um Autorin Adania Shibli: Schatten auf der Buchmesse
       
       Kann man einen Roman auszeichnen, der Israel als Mordmaschine darstellt?
       Dieser Diskussion muss sich die Frankfurter Buchmesse stellen.
       
   DIR Studie zu jüdischen Einwander:innen: Doppelte Belastungsprobe
       
       Immigration israelischer Jüd:innen nach Deutschland ist nicht
       selbstverständlich. Eine Studie untersucht, warum die Zahlen dennoch
       steigen.
       
   DIR Dritter Band zur Theatergeschichte: Eloquenz und Fachkenntnis
       
       Günther Rühle hat das Theater im gesellschaftlichen Resonanzraum eng
       begleitet. Sein dritter Band zur Theatergeschichte behandelt die Jahre
       1967-95.
       
   DIR Theaterkritik in der Krise: Nach Art des Hauses
       
       Die Theaterkritik läuft online schlecht und die Bühnenkünstler:innen
       schimpfen laut über sie. Ist sie deshalb tot?
       
   DIR Antisemitimus-Vorwurf im Theater: Der Identity-Komplex
       
       Nach Antisemitismusvorwürfen setzt das Metropoltheater München eine
       Inszenierung von Wajdi Mouawads „Die Vögel“ ab.
       
   DIR Arabische Juden: Eine vergessene Fluchtgeschichte
       
       Warum leben heute kaum Juden in Bagdad und keine in Algier? Die
       arabisch-islamische Judenfeindschaft ist um einiges älter als der Staat
       Israel.
       
   DIR Zweiter Weltkrieg im jüdischen Palästina: Die Deutschen vor El Alamein
       
       Der Historiker Dan Diner betrachtet den Zweiten Weltkrieg vom Jischuv, dem
       jüdischen Palästina, aus. Damit gelingt ein fulminanter Perspektivwechsel.