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       # taz.de -- Wer ist die Letzte Generation?: Ungehorsam, aber zivil
       
       > Die Aktionen der Letzten Generation bekommen gerade viel Aufmerksamkeit.
       > Wer engagiert sich da – und ist die Gruppe jetzt hierarchisch
       > organisiert?
       
       Lange hatte Lisa Reiche geglaubt: Wenn endlich richtig viele Menschen für
       mehr Klimaschutz protestieren, dann ändert die Regierung ihre Politik. Dann
       wird endlich etwas gegen diese Katastrophe getan. Am 20. September 2019,
       einem Freitag, verliert sie diesen Glauben.
       
       Zusammen mit ihren Freundinnen nimmt sie an diesem Tag an der
       Klimastreik-Demo von Fridays for Future teil, die durch Berlin-Mitte zieht.
       Sie tanzt zu den Bässen, die von den Lautsprecherwagen dröhnen, und lacht,
       wenn sie auf einem der Schilder einen witzigen Spruch entdeckt.
       
       17 Jahre ist Lisa Reiche damals. Sie freut sich, dass so viele Menschen in
       ihrem Alter auf dieser Demonstration sind, und so viele, die noch jünger
       sind als sie. Am Abend scrollt sie auf ihrem Handy durch die Nachrichten:
       Mehr als 250.000 Menschen allein in Berlin auf der Straße, über 1,4
       Millionen in ganz Deutschland. Sie hat das Gefühl, Teil von etwas Großem zu
       sein. Es ist ein gutes Gefühl.
       
       Doch als sie weiter scrollt, erfährt sie auch: Während die Demonstration
       durch die Straßen zog, verabschiedete der Koalitionsausschuss ein
       Eckpunktepapier für die deutschen Klimaziele bis 2030. Und egal, welchen
       Kommentar sie liest, alle sind sich einig: Die beschlossenen Maßnahmen sind
       nicht ausreichend, zu zaghaft, zu spät.
       
       ## Geldstrafen werden oft privat getragen
       
       „Ich habe mich damals so ohnmächtig gefühlt, so hilflos“, sagt sie heute,
       wenn sie sich an diesen Tag erinnert.
       
       Jetzt, gut drei Jahre später, fühle sie sich nicht mehr ohnmächtig. Sie ist
       nicht mehr bei Fridays for Future aktiv, sondern Teil der Gruppe, die sich
       Letzte Generation nennt. Eine Gruppe, die momentan mit ihren Aktionen nicht
       nur mehr Aufmerksamkeit bekommt als jede andere der Klimabewegung, sondern
       die auch extrem schnell wächst: Anfang des Jahres bestand die Organisation
       nach eigenen Angaben aus gerade einmal 30 Aktivist:innen, heute seien es
       mehr als 700 bundesweit, fast 140 allein in Berlin.
       
       Dabei wirkt es nicht besonders attraktiv, bei der Letzten Generation
       mitzumachen: Früh aufstehen, sich im Berufsverkehr mitten auf die Straße
       setzen, die Hand mit Sekundenkleber am Asphalt festkleben, sobald die
       Polizei kommt. Sich beschimpfen lassen, wegtragen lassen, in
       Polizeigewahrsam gebracht werden, manchmal für Tage, in Bayern auch für
       Wochen. [1][Am vergangenen Donnerstag blockierten die Aktivst:innen die
       Start- und Landebahn des Münchner Flughafens], störten auch am Berliner
       Flughafen den Betrieb. Die Empörung war wieder groß.
       
       Die Geldstrafen müssen die Aktivist:innen häufig privat tragen, anders
       als bei anderen Gruppen, wo dafür Unterstützung organisiert wird.
       
       Dazu kommt: Die Letzte Generation ist hierarchischer organisiert, als man
       es sonst aus sozialen Bewegungen kennt, in denen Basisdemokratie eigentlich
       groß geschrieben wird. Welche konkreten Forderungen erhoben werden, wann wo
       welche Aktionen gemacht werden und wie diese medial vermittelt werden,
       bestimmt das sogenannte Strategieteam, eine Kerngruppe aus einer Handvoll
       Menschen, auf deren Zusammensetzung der Rest der Gruppe keinen Einfluss
       hat.
       
       Und die Gruppe polarisiert stark: Aus allen Ecken hagelt es Kritik. Da ist
       ein rechter Mob, der sich unter dem Hashtag „Letzte Degeneration“ über
       Aussehen und Verhalten der Klima-Aktivist:innen lustig macht und die vielen
       Kommentare teilt, in denen in Medien von BILD bis FAZ gefordert wird, die
       „kriminellen Klima-Kleber“ zu verbieten. Da ist auch der grüne
       Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, der die „[2][Radikalisierung der
       Wenigen]“ verurteilt, oder SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, der den
       „[3][Absolutismus“ der Gruppe] kritisiert. Selbst in der Umwelt- und
       Klimabewegung wird heftig über die Letzte Generation gestritten: Nutzen sie
       der Sache, oder schaden sie ihr?
       
       An einem Donnerstagabend im Dezember sitzt Lisa Reiche auf einer Bühne in
       einem Raum mit rosa Wänden, sie trägt einen grünen Kapuzenpullover und die
       rötlich gefärbten Haare offen. Reiche hält hier, in einem
       Nachbarschaftszentrum in Prenzlauer Berg, einen der vielen Vorträge, die
       die Letzte Generation in ganz Deutschland anbietet.
       
       22 Menschen sind gekommen. Das Alter der Besucher:innen reicht von 16
       bis Mitte 60, auch sonst ist es eine sehr gemischte Gruppe. Ein Mann mit
       langen Haaren und Vollbart, der sich in breitem Bayerisch über die Grünen
       aufregt. Eine junge, schüchtern wirkende Frau, die mit leiser Stimme von
       ihrer Angst vor der Klimakatastrophe erzählt. Ein Student Mitte 20, dem die
       Forderungen der Letzten Generation alle nicht weit genug gehen.
       
       Die Vorträge sind wichtig für die Gruppe, darüber gewinnt sie neue
       Mitglieder: Wer möchte, kann am Ende seine Kontaktdaten abgeben und wird zu
       einem Aktionstraining eingeladen. Wer dort teilgenommen hat, kann bei den
       Straßenblockaden mitmachen.
       
       Gut 20 Minuten spricht Reiche über das Ausmaß der Klimakatastrophe und über
       die schrecklichen Szenarien, die der Welt drohen. Man merkt, dass sie
       diesen Vortrag nicht selbst geschrieben hat, manchmal stolpert sie bei
       schwierigen Stellen, später wird sie die Hände vor dem Gesicht
       zusammenschlagen und lachen, voll peinlich, die Fehler.
       
       Aber für den Verlauf des Abends ist das nicht wichtig. Wichtig ist, dass
       das Publikum nach dem Vortrag in Kleingruppen aufgeteilt wird, in denen
       zwei Fragen diskutiert werden: Was fühle ich, nachdem ich das gehört habe?
       Und: Wie kann ich mich einbringen?
       
       Mehr als anderthalb Stunden diskutieren die Besucher:innen miteinander.
       Sie erzählen sich gegenseitig, wie es ihnen mit der Klimakrise geht, reden
       über Angst, Verzweiflung, Hoffnung, dazu wird eine Dose mit selbst
       gebackenen Keksen herumgereicht. Es werden Fragen zur Letzten Generation
       gestellt, kritische Fragen auch, die Reiche und mehrere andere Mitglieder
       beantworten. Sie betonen, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, bei
       der Gruppe mitzumachen. Man muss sich nicht auf die Straße kleben, man kann
       auch für andere kochen. Am Ende geben fast alle Anwesenden die ausgefüllten
       Bögen mit ihren Kontaktdaten ab.
       
       Lisa Reiche holt gerade ihr Abi nach, sie hat zuerst eine Ausbildung
       gemacht, wohnt jetzt in einem Hausprojekt und arbeitet als
       Einzelfallhelferin für Kinder mit Beeinträchtigungen. Sie ist ein Mensch,
       der starke Empathie für die Schwachen aufbringt, seien es kleine Kinder
       oder die Bewohner:innen der Teile der Welt, die am stärksten unter den
       Klimafolgen leiden.
       
       Wenn sie über ihre Gefühle spricht, wird ihre Stimme etwas lauter. Sie
       erzählt davon, wie schrecklich sie sich mit ihren Privilegien fühlt. Die
       Letzte Generation hilft ihr gegen dieses Gefühl. „Ich hab total Hoffnung,
       dass es doch noch klappt“, sagt sie. „Weil wir es schaffen, dass alle
       darüber reden, und weil immer mehr Leute bei uns mitmachen wollen.“
       
       Seit Anfang des Jahres ist Lisa Reiche bei der Letzten Generation dabei.
       Wenn sie Schulferien hat, klebt sie sich mit auf die Straße, aber sie will
       vor allem ansprechbar sein für die vielen Neuen, die in die Gruppe kommen.
       Um die „Bienen“, wie intern die Menschen genannt werden, die an den
       Aktionen teilnehmen und dafür teils Wochen oder Monate in eine andere Stadt
       ziehen, kümmern sich die „Gärtnerinnen und Gärtner“, die selbst nicht an
       Blockaden teilnehmen wollen: Kochen, psychologische Unterstützung
       organisieren, auch mal eine Auszeit. Fast jeden Abend gibt es in Berlin die
       Möglichkeit, gemeinsam zu essen, über die letzte Aktion und die nächsten
       Planungen zu sprechen, aber vor allem, sagt Reiche, darüber, wie man sich
       fühlt.
       
       Gefühle – schlechtes Gewissen, Scham, Angst, Wut, Mitgefühl – sind für
       viele ein wichtiger Motor, das wird auch in Gesprächen mit weiteren
       Aktivist:innen deutlich. Viele von ihnen waren vorher bei Fridays for
       Future oder Extinction Rebellion aktiv, viele haben bereits heftige
       politische Enttäuschungen hinter sich, obwohl sie noch so jung sind.
       
       Theo Schnarr gehört da schon zu den Älteren. Er ist 31 Jahre alt, Doktorand
       der Biochemie an der Uni Greifswald. Schnarr ist groß, Handballer, er trägt
       einen Vollbart und spricht mit ruhiger Stimme. „Meine Frau und ich, wir
       haben bisher ein richtig braves Leben geführt“, sagt er. „Schule, dann das
       Biochemiestudium, guter Abschluss, jetzt die Doktorarbeit.“
       
       Als Naturwissenschaftler hat er sich schon früh mit dem Klimawandel
       beschäftigt, aber mit Aktivismus hatte er bis zur Letzten Generation keine
       Berührungspunkte. Im März ging Schnarr zu einem Vortrag der Gruppe in
       Greifswald. Vier Wochen später klebt er sich bei den Aktionen der Gruppe in
       Frankfurt am Main auf die Straße, kommt in Polizeigewahrsam, mehrmals,
       einmal fünf Tage am Stück.
       
       „Nachdem wir den Vortrag gehört hatten, haben meine Frau und ich uns
       intensiv mit zivilem Ungehorsam auseinandergesetzt“, sagt Schnarr. Sie
       hätten sich mit den theoretischen Konzepten dahinter beschäftigt, Bücher
       gelesen, historische Beispiele mit dem verglichen, was die Letzte
       Generation heute macht. Am Ende seien sie beide zu dem Schluss gekommen,
       dass die Aktionen der Letzten Generation gerechtfertigt seien,
       unterstützenswert. Mit seiner Mutter, die im öffentlichen Dienst arbeitet,
       habe er durchgesprochen, was ein Eintrag im polizeilichen Führungszeugnis
       für seine beruflichen Aussichten bedeuten könnte. „Aber ich finde es nicht
       schlimm, wenn ich bei einem Bewerbungsgespräch darauf angesprochen werde,
       denn ich kann ja gut begründen, warum ich an diesen Aktionen teilnehme.“
       
       Früher, erzählt Schnarr, habe er in seinem Freundeskreis versucht, für das
       Thema Klimawandel und den eigenen Konsum zu sensibilisieren. „Ich war immer
       der, der vorgeschlagen hat, beim Grillen auf Fleisch zu verzichten.“
       Unzählige Witze habe er sich darüber anhören müssen. Er sagt das ganz
       nüchtern, ohne Groll, aber mit einer klaren Bilanz: Weiter kam er so nicht.
       
       Er, der fast sein ganzes Leben von einer großen Koalition regiert wurde,
       habe schon gehofft, dass sich mit der Ampelregierung etwas ändere, sagt
       Schnarr. „Es gibt ja auch ein paar Verbesserungen in anderen Bereichen,
       aber die Realität der Klimasituation wird einfach nicht anerkannt. Über die
       Klimaziele wird geredet, als wären das Fußballergebnisse: Tja, nicht
       geklappt, schade, aber kann man nicht ändern.“
       
       Nur, sind die Aktionen der Letzten Generation die richtige Form, um das zu
       ändern? Wie sehen das jene, die sich schon länger mit Klimaprotesten
       beschäftigen?
       
       [4][Christoph Bautz] ist ein wichtiger Mann in der deutschen Protestszene,
       ein Kampagnenprofi. Er baute Attac Deutschland mit auf und gründete 2004
       die Nichtregierungsorganisation Campact, die politische Kampagnen zu
       verschiedenen Themen vorantreibt. Was meint er: Helfen die Aktionen der
       Letzten Generation oder schaden sie, weil sie so viel Wut und Unverständnis
       verursachen, sogar bei Menschen, die Klimaschutz eigentlich wichtig finden?
       
       Bautz erzählt dazu eine Anekdote: Zur Bundestagswahl 2021 hatte Campact
       mehr als 5 Millionen Türhänger zum Thema Klimapolitik produziert, die sie
       vorher an Fokusgruppen testeten. Selbst bei Teilnehmer:innen „aus dem
       rot-grünen Milieu“ habe es ein klares Ergebnis gegeben: Alle
       Formulierungen, die die Klimakrise realistisch beschrieben, seien als „zu
       alarmistisch“ eingestuft worden. „Die Leute waren zwar für moderaten
       Klimaschutz. Aber wir haben gemerkt: Die Dramatik der Situation ist selbst
       in diesem Milieu noch nicht angekommen.“
       
       Vor der Letzten Generation habe die Klimabewegung ein Problem gehabt, sagt
       Bautz: „Da gab es jahrelang ein Mehr vom Selben.“ Fridays for Future habe
       noch mehr Demonstrationen organisiert, Ende Gelände noch mehr Kohlegruben
       besetzt. „Aber leider nutzt sich das medial mit der Zeit ab, die
       Aufmerksamkeit schwindet.“ Erst die Letzte Generation habe es geschafft,
       wieder wirklich große Aufmerksamkeit für Klimaschutzforderungen zu
       erzielen.
       
       Weder an den inhaltlichen Forderungen noch daran, dass sich die Letzte
       Generation für zivilen Ungehorsam als Aktionsform entschieden hat, habe er
       Kritik, sagt Bautz. Ihn beschäftige das Thema Vermittelbarkeit, die Frage,
       wo die Konfliktlinie gezogen wird: „Wenn sich die Letzte Generation im
       Berufsverkehr auf die Straße klebt, dann gibt es einen Konflikt mit weiten
       Teilen der Bevölkerung.“ Sich etwa vor das Verkehrsministerium oder die
       Parteizentrale der Grünen zu kleben, sagt Bautz, sei aus seiner Sicht der
       bessere Weg: „Das macht klar, dass der Konflikt nicht innerhalb der
       Bevölkerung verläuft, sondern zwischen Bevölkerung und Regierung.“
       
       Während die Letzte Generation in der Klimabewegung am Anfang eher belächelt
       wurde, haben die heftigen Angriffe auf die Gruppe einen
       Solidarisierungseffekt erzeugt. Christoph Bautz verurteilt diese Angriffe
       scharf, spricht von „Kampagnencharakter“ und davon, dass es darum gehe, die
       gesamte Bewegung zu diskreditieren.
       
       Bei Greenpeace sieht man das ähnlich. Greenpeace-Geschäftsführer [5][Martin
       Kaiser] sagt über die Angriffe auf die Letzte Generation: „Das ist eine
       Ablenkungsdebatte, die geführt wird, um nicht über die eigenen Versäumnisse
       sprechen zu müssen.“ Er teile die Anliegen der Letzten Generation: „Was mir
       fehlt, ist eine Reaktion der Ampelregierung, die sagt: Ja, die Gruppe hat
       einen Punkt, wir müssen jetzt dringend handeln, bevor es zu spät ist.“
       
       Doch auch Kaiser macht einen Unterschied deutlich: „Greenpeace war und ist
       bekannt für spektakuläre und wirkungsvolle Aktionen des zivilen
       Ungehorsams, die immer am Ort des Geschehens stattfinden.“ Im Berliner
       Regierungsviertel demonstrieren, das Verkehrsministerium blockieren, die
       Kohlegrube besetzen: So läuft Protest normalerweise. Die Letzte Generation
       verfolgt eine andere Strategie, weil sie eine andere Vorstellung davon hat,
       wie Veränderung funktioniert.
       
       „Uns geht es darum, permanent den Druck oben zu halten, konstruktive
       gesellschaftliche Spannung zu erzeugen“, sagt Carla Rochel, eine der
       Sprecher:innen der Organisation. Dass die Forderungen der Gruppe – ein
       Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung, Tempolimit, 9-Euro-Ticket – viel
       weniger radikal sind als die Aktionsform, ist eine bewusste Strategie.
       
       Der Gedanke: Je stärker die Störung ist, die die Gruppe erzeugt, und je
       umsetzbarer ihre Forderungen sind, desto weniger verständlich ist es für
       die Bevölkerung, warum die Regierung die Forderungen nicht einfach erfüllt.
       
       Die Gruppe habe auch andere Protestformen ausprobiert, als sich im
       Berufsverkehr auf die Straße zu kleben, sagt Rochel. „Im Frühling haben wir
       Protestaktionen an Pipelines gemacht – es hat kaum jemanden interessiert.“
       Ähnlich sieht es Theo Schnarr: „Mir macht das keinen Spaß, da auf der
       Straße zu sitzen und mich beschimpfen zu lassen, geschlagen zu werden“,
       sagt er. „Aber die Aufmerksamkeit, die wir jetzt bekommen, die für
       Veränderung notwendige gesellschaftliche Spannung, würden wir niemals
       kriegen, wenn wir uns stattdessen vor ein Ministerium setzen.“
       
       Aber ist jede Aufmerksamkeit gute Aufmerksamkeit?
       
       „Natürlich fühlt es sich skurril an, gefühlt das zwanzigste Interview dazu
       zu geben, welche Art von Sekundenkleber wir benutzen“, sagt [6][Carla
       Rochel]. „Aber es ist ja nun auch nicht so, dass die, die sich jetzt über
       unsere Aktionsformen empören, vorher die ganze Zeit über die Klimakrise
       geredet hätten.“ Dass in deutschen Wohnzimmern gerade so viel über die
       Letzte Generation diskutiert wird, findet sie gut: „Wenn es darum geht, ob
       das, was wir machen, legitim ist, geht es ja immer auch darum, ob das
       Ausmaß der Klimakrise diesen Protest rechtfertigt. Dann wird endlich über
       dieses Ausmaß gesprochen.“
       
       Die aktuelle Debatte über die Letzte Generation zeigt auch, wie schnell das
       öffentliche Gedächtnis vergisst. Messerscharf wird gerade in vielen
       Artikeln eine Linie gezogen: Das ist guter Protest, das ist schlechter
       Protest.
       
       Die Letzte Generation steht auf der Seite des schlechten Protests, andere
       Gruppen werden in das andere Feld einsortiert, etwa Fridays for Future. Wie
       erbittert noch vor wenigen Jahren, als die Organisation neu war, darüber
       diskutiert wurde, ob es legitim ist, dass Schüler:innen für das Klima
       die Schule schwänzen: Vergessen. So wie vergessen ist, welchen Anfeindungen
       die Anti-AKW-Bewegung jahrzehntelang ausgesetzt war.
       
       Straßenblockaden als Protestform sind nicht neu, neu ist die Intensität und
       Ausdauer, mit der die Letzte Generation sie betreibt. Bei der Wahl der
       Blockadeorte zielen sie darauf ab, so viel Störung wie möglich zu erzeugen.
       Betrachtet man das Verhältnis der Anzahl der Aktivist:innen, die dafür
       benötigt werden, und die Aufmerksamkeit, die sie bekommen, ist das Ergebnis
       ein extrem effizienter Ressourceneinsatz.
       
       Diese Effizienz hat ihren Preis: Wer bei der Letzten Generation mitmacht,
       hat wenig Mitspracherecht. Jeden Sonntag, erzählen die Aktivist:innen, gibt
       es eine Videokonferenz, an der alle Aktivist:innen teilnehmen können
       und in der das Strategieteam vorstellt, was als Nächstes geplant ist. Der
       Rest der Gruppe kann dazu Fragen stellen und Feedback geben, aber was mit
       diesem Feedback passiert, entscheidet das Strategieteam.
       
       „Ich bin froh, dass es Menschen gibt, die sich den ganzen Tag Zeit nehmen,
       um über die nächsten Schritte zu beraten“, sagt Lisa Reiche. „Es gibt immer
       die Frage: Setzt du auf Effektivität oder auf möglichst flache
       Hierarchien?“, sagt Theo Schnarr. Ihm ist Effektivität gerade wichtiger.
       
       „Wir tun alles für eine gute Feedback-Kultur“, sagt Carla Rochel, die zum
       Strategieteam gehört. „Aber wir haben leider bei anderen Organisationen
       gesehen, dass Basisdemokratie zu viel Zeit braucht, die wir nicht haben.“
       Die Strategie der Letzten Generation ist avantgardistisch, auch wenn sie
       Forderungen hat, hinter denen Mehrheiten stehen. Es geht um Druck. Es geht
       nicht darum, Mehrheiten zu gewinnen, weil die Gruppe überzeugt ist, dass es
       diese längst gibt. Was ihre konkreten Forderungen angeht – 9-Euro-Ticket,
       Tempolimit – stimmt das. In Bezug auf die tiefgreifenden Veränderungen, die
       notwendig wären, um die Klimakrise zu bekämpfen, ist es mit den Mehrheiten
       nicht ganz so einfach.
       
       Es gibt verschiedene Möglichkeiten, politischen Erfolg zu bemessen. Dass
       die Demonstrationen von Fridays for Future oder die Massenaktionen von Ende
       Gelände nichts bewirken, wie es bei der Letzten Generation heißt, greift zu
       kurz. Klar ist: Gerade schafft es die Letzte Generation besser, Spannung zu
       erzeugen. Sie ist erfolgreich, das macht sie attraktiv.
       
       Das sehen auch andere: „Uns ist wichtig, an basisdemokratischen Strukturen
       festzuhalten und auf die Systemfrage aufmerksam zu machen, aber natürlich
       diskutieren wir über unsere Aktionsformen, wenn wir sehen, mit wie wenig
       Menschen es der Letzten Generation gerade gelingt, so viel Aufmerksamkeit
       zu bekommen“, sagt eine Sprecherin von Ende Gelände der taz. Auch bei
       Fridays For Future heißt es, dass in der Gruppe über Aktionsformen
       diskutiert werde.
       
       Bisher galt: Wer politisch etwas verändern möchte, braucht einen langen
       Atem. Wenn nächstes Jahr die drei letzten deutschen Atomkraftwerke
       abgeschaltet werden, sind mehr als 50 Jahre seit den ersten
       Anti-AKW-Protesten vergangen. Was die Letzte Generation gerade versucht,
       ist, eine Abkürzung zu finden. Wenn das nicht klappt, hat sie ein Problem:
       Kaum vorstellbar, dass sie die aktuelle Intensität ihrer Blockaden über
       Jahre aufrecht erhalten kann.
       
       Und selbst wenn das gelänge, kämen auch hier die erbarmungslosen
       Mechanismen öffentlicher Aufmerksamkeit zum Tragen, für die ein Mehr vom
       Selben nicht funktioniert. Vielleicht findet das Strategieteam auch auf
       diese Herausforderung eine Antwort. Vielleicht hat es sich bis dahin längst
       gespalten. Vielleicht hat sich die Gruppe weiter radikalisiert.
       
       Doch das sind Zukunftsfragen. Für Lisa Reiche und Theo Schnarr sind gerade
       andere Themen wichtig. Reiche will nächstes Jahr ihr Abi machen, gerade
       überlegt sie, ob sie danach anfängt zu studieren oder jeden Tag bei der
       Letzten Generation mitmacht. Sie tendiert zu Zweiterem.
       
       Und Theo Schnarr fragt sich, ob er für die Aktionen der Gruppe auch richtig
       ins Gefängnis gehen würde. Davor habe er Bammel, sagt er. Aber er habe auch
       das Gefühl, sich in so einer Situation auf seine sozialen Beziehungen
       verlassen zu können. Es klingt, als sei dieser Schritt für ihn nicht
       ausgeschlossen.
       
       10 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Letzte-Generation-in-Muenchen-und-Berlin/!5902038
   DIR [2] https://www.berliner-zeitung.de/news/habeck-protest-der-letzten-generation-ist-radikalisierung-der-wenigen-li.292772
   DIR [3] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/kevin-kuehnert-verurteilt-absolutismus-von-klimaaktivisten-der-letzten-generation-a-1f05b165-9bc6-4100-b5e4-274c49a41e37
   DIR [4] https://www.campact.de/campact/ueber-campact/vorstand/
   DIR [5] https://twitter.com/martinkaisergp?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%7Ctwgr%5Eauthor
   DIR [6] https://mobile.twitter.com/rochel_carla
       
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       Zeke Hausfather. Über den Spagat zwischen Fatalismus und Verharmlosung.
       
   DIR Razzien bei der Letzten Generation: Klima der Kriminalisierung
       
       Es ist unsäglich, die Klimabewegung auch nur annähernd wie die
       „Reichsbürger“-Terrorgruppe zu behandeln. Derweil verschärft sich die
       Klimakrise immer weiter.
       
   DIR Ermittlungen gegen die Letzte Generation: Kriminalisierter Klimaschutz
       
       Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Bildung einer kriminellen
       Vereinigung. Elf Hausdurchsuchungen soll es gegeben haben.
       
   DIR Vorwurf kriminelle Vereinigung: Durchsuchungen bei Aktivist*innen
       
       Bei Aktivist*innen der „Letzten Generation“ soll es Hausdurchsuchungen
       gegeben haben. Der Vorwurf: „Bildung einer kriminellen Vereinigung.“
       
   DIR Debatte um eine „grüne RAF“: Klimakrise nicht verstanden
       
       Warnungen vor einer „grünen RAF“ wurden von rechts bereitwillig
       aufgenommen. Ökoterrorismus ist Fiktion – die Klimakrise aber ist real.
       
   DIR Ausbruch des Vulkans Mauna Loa auf Hawaii: Lavastrom stoppt die Klimamessung
       
       Auf Hawaii spuckt der Vulkan Mauna Loa seit November wieder Lava und Asche.
       Das hat auch Auswirkungen auf eine der wichtigsten Klimaaufzeichnungen.
       
   DIR Proteste der Letzten Generation: München verbietet Klima-Kleben
       
       Die Stadt München will Klimaaktivisten den Protest erschweren: Sie
       verbietet bis zum Januar das Ankleben auf der Straße.
       
   DIR Straße in Berlin blockiert: Letzte Generation klebt weiter
       
       Klimaaktivist:innen blockieren eine Straße. Berlins Kultursenator
       Lederer (Linke) meint, die Proteste provozierten nur Ärger.
       
   DIR Letzte Generation in München und Berlin: Flughäfen blockiert
       
       Klima-Aktivisten haben sich auf den Flughäfen München und Berlin
       festgeklebt. In München musste eine Rollbahn gesperrt werden.
       
   DIR Rechte Polemik in der Öffentlichkeit: Gefährliches Zündeln
       
       Die Empörung gegen die Letzte Generation folgt polemischen Logiken. Sie
       fördert ein Klima, das rechte Hetze und Gewalt normalisiert. Ein
       Gastbeitrag.