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       # taz.de -- Debatte um Rente mit 70: Verdienen statt malochen
       
       > Das liberale Modell, über die Rente hinaus weiterzuarbeiten, ist besser
       > als die diskutierte Rente mit 70. Die Regierung muss hier standhaft
       > bleiben.
       
   IMG Bild: Stillsitzen wollen längst nicht alle, die vorzeitig in Rente gehen
       
       Für Rentner:innen beginnt das neue Jahr mit einer guten Nachricht: Nicht
       nur das Ruhegeld steigt – im Westen um rund 3,5 Prozent und im Osten um 4,2
       Prozent – ab 1. Januar 2023 entfallen auch die Hinzuverdienstgrenzen für
       Menschen im vorzeitigen Ruhestand. So hat es das Bundeskabinett Ende August
       2022 beschlossen und so tritt es jetzt in Kraft. [1][SPD-Arbeitsminister
       Hubertus Heil] begründet den Vorstoß damit, dass die Bundesregierung „den
       Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand flexibel“ gestalten möchte – und
       das dauerhaft für alle Betroffenen, insbesondere für jene Menschen, die aus
       verschiedenen Gründen nicht bis zum offiziellen Renteneinstiegsalter
       arbeiten können oder wollen. Bislang war die Summe, die
       Frührentner:innen verdienen durften, ohne dass ihnen der zusätzliche
       Verdienst auf die Rente angerechnet wurde oder sie dafür Steuern zahlen
       mussten, gedeckelt. Diese Grenze fällt jetzt komplett weg.
       
       Der Grund für die „Großzügigkeit“ der Ampel erschließt sich sofort:
       Arbeitskräftemangel. Überall fehlen Fachkräfte, vor allem in der Kinder-,
       Jugend- und Sozialarbeit, in den Schulen und Kitas, in den Krankenhäusern
       und Pflegeeinrichtungen, in der Suchtberatung – also überall dort, wo
       Menschen persönliche Hilfe brauchen. Im Sommer 2021 wurden dem Institut der
       deutschen Wirtschaft in Köln zufolge bundesweit allein 20.578
       sozialpädagogische und 18.279 Pflegefachkräfte gesucht. Aber auch
       IT-Spezialist:innen und Handwerker:innen wie Heizungs- und
       Kfz-Monteur:innen sowie Kraftfahrer:innen fehlen zuhauf.
       
       Was es heißt, wenn die Zahl der Lkw-Fahrer:innen rapide sinkt, erlebt
       aktuell [2][Großbritannien]: Der Güterverkehr funktioniert nicht mehr wie
       sonst, Lieferketten sind unterbrochen. Das sorgt für leere Warenregale,
       lange Schlangen an den Tankstellen, stillstehende Fabrikproduktionen. Die
       britische Regierung versucht Abhilfe zu schaffen, indem sie über gelockerte
       Einreisebestimmungen ausländische Kraftfahrer:innen auf die Insel
       lockt.
       
       Deutschland setzt auf Vergünstigungen für einheimische Arbeitskräfte, vor
       allem für jene, die nicht bis zum „bitteren Ende“ malochen wollen. Zwar
       können manche von ihnen bereits heute schon früher in Rente gehen – so sie
       mindestens 35 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt haben und Abschläge bei
       ihrer Rente in Kauf nehmen. Um die niedrigere Rente aufzubessern, arbeiten
       viele Rentner:innen weiter. So wie Guntram Jordan.
       
       Als der heute 69-Jährige vor neun Jahren vorzeitig in Rente ging, bekam er
       712 Euro Ruhegeld: 800 Euro Bruttorente minus 11 Prozent Abschlag, weil er
       mit 60 Jahren in den Ruhestand trat. Aufgrund eines Unfalls ist er
       schwerbehindert und hätte, so sagt er, nicht einmal bis zu seinem wegen der
       Beeinträchtigung vorgezogenen Renteneintrittsalter von 63 Jahren so
       arbeiten können. Jedenfalls nicht so, wie das sein Job als Concierge eines
       großen Berliner Hotels vorsah: Dreischichtsystem, bis zu zehn Stunden
       stehen, das fünf bis sechs Mal in der Woche. Dazu stets freundlich und
       zuvorkommend sein müssen.
       
       Ohne die Behinderung hätte Jordan, der seinen richtigen Namen nicht in der
       Zeitung lesen will, bis zu einem Alter von 65 Jahren und 7 Monaten arbeiten
       müssen. Die Geburtsjahrgänge ab 1964 müssen in der Regel arbeiten, bis sie
       67 Jahre alt sind – es sei denn, sie nehmen hohe Rentenabschläge in Kauf.
       Guntram Jordan hat das gemacht, „obwohl meine Rente überhaupt nicht
       berauschend war und die Abschläge sie noch einmal gesenkt haben. Sonst wäre
       ich jetzt vermutlich schon tot“, sagt der Mann.
       
       Weil er von so wenig Geld nicht leben konnte, arbeitete er als Rentner
       weiter. Aber so, wie er es schaffte und wollte: wenige Stunden täglich,
       höchstens zwei oder drei Tage hintereinander, kein Schichtsystem.
       Allerdings war der von ihm selbst stark reduzierten Arbeitszeit ohnehin ein
       gesetzliches Limit gesetzt: die damalige Hinzuverdienstgrenze von höchsten
       450 Euro monatlich. Jeder Euro, den er darüber hinaus erarbeitet hätte,
       wäre ihm von der Rente abgezogen worden. Für Betroffene, die wie Guntram
       Jordan im Niedriglohnsektor arbeiten – auf dem Bau, in der Pflege, im
       Einzelhandel – und oft kaputte Knochen oder chronische Krankheiten haben,
       war dieses Limit eine harte Einschränkung. Dass die jetzt fällt, ist ein
       positives Signal der Ampel an alle Frührentner:innen – Fachkräftemangel
       hin oder her.
       
       Zwar ist die Hinzuverdienstgrenze in den vergangenen Jahren bereits
       schrittweise angehoben wurde. Vor der Coronapandemie lag sie bei jährlich
       6.300 Euro, jeder darüber hinaus eingenommene Euro wurde mit 40 Prozent
       besteuert. 2020 wurde der jährliche Freibetrag auf 44.590 Euro erhöht, ab
       2021 noch einmal auf 46.060 Euro. Auch diese Lockerung resultierte aus dem
       Arbeitskräftemangel, der mit den Bildern aus überfüllten Kliniken
       überdeutlich wurde. Jede medizinische Fachkraft, die nicht an Corona
       erkrankt war, wurde gebraucht – und aus dem Ruhestand geholt.
       
       Die meisten von ihnen machen das gern – weil sie für ihre Arbeit ohne
       übermäßige Besteuerung bezahlt werden und keine Renteneinbußen hinnehmen
       müssen. Das ist ein zukunftsträchtiges Modell für alle Berufsgruppen und
       alle Frührentner:innen. Menschen, die vorzeitig aus dem Job aussteigen
       (müssen), sind für den löchrigen Arbeitsmarkt nicht verloren. Im Gegenteil:
       Eine uneingeschränkte Hinzuverdienstmöglichkeit ist für sie ein klares
       Signal: Du kannst arbeiten, wenn du willst, es gibt keine bürokratischen
       Hürden.
       
       Besonders lukrativ ist das für gut verdienende Fachkräfte, aber auch im
       Niedriglohnbereich lohnt sich das liberale Modell im Zusammenspiel mit dem
       Mindestlohn. Es ist damit das Gegenteil vom aktuell marktwirtschaftlich
       diskutierten [3][Renteneintrittsalter mit 70 Jahren]. Will die Ampel ihre
       soziale Verantwortung wahrnehmen, muss sie hier standhaft bleiben.
       
       2 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schmollack
       
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