URI: 
       # taz.de -- Ein Verein für jüdische Kultur: Freudig das Jiddische pflegen
       
       > Die Hamburger Salomo-Birnbaum-Gesellschaft hegt die vom Aussterben
       > bedrohte jiddische Sprache und Kultur. Dazu zählen auch Übersetzungen und
       > Lesungen.
       
   IMG Bild: Eins von vielen jiddishen Lehnworten: „meschugge“ („verrückt“) findet sich im Duden
       
       Hamburg taz | „Wenn einen das Jiddische gepackt hat, lässt es einen nicht
       mehr los. Dann öffnet sich eine Welt, aus der man nicht mehr heraus
       möchte“, sagt Inge Mandos, Co-Vorsitzende der Hamburger
       Salomo-Birnbaum-Gesellschaft für [1][Jiddisch.] Sie selbst ist keine Jüdin,
       hat aber vor Jahren begeistert Jiddisch gelernt, ihre Stimme ausbilden
       lassen und das Lehrerinnendasein inzwischen gegen das einer
       Jiddisch-Konzertsängerin getauscht.
       
       Jiddisch – das ist jene im Mittelalter im Rheinland entstandene Sprache des
       osteuropäischen Judentums – der Aschkenasen – und die sich durch mannigfach
       erzwungenes Exil weltweit verbreitete. „Elf der 15 Millionen JüdInnen, die
       1933, vor der Shoah, weltweit lebten, sprachen Jiddisch“, sagt Mandos. „Die
       anderen – die [2][Sepharden] – nutzten das gleichfalls im Mittelalter auf
       der Iberischen Halbinsel entstandene [3][Ladino,] das „Judenspanisch“. In
       ihren Konzerten präsentiert Inge Mandos Lieder beider Gruppen.
       
       Ansonsten konzentriert sie sich, gemeinsam mit den übrigen rund 80
       Mitgliedern der Salomo-Birnbaum-Gesellschaft, eines eingetragenen Vereins,
       auf die Pflege der jiddischen Sprache und Kultur. Die habe viele Facetten:
       „Erstens ist Jiddisch eine interkulturelle Sprache, mit der sich Menschen
       von [4][Litauen] bis in die USA verständigen können“, sagt sie. Die im Zuge
       der Emigration aus vielen Ländern aufgenommenen Vokabeln sind für die
       Verständigung eher von Vorteil.
       
       Zudem stehe das Jiddische für eine reiche publizistische wie literarische
       Produktion, besonders im Osteuropa der Zwischenkriegszeit. „Als Beispiele
       wären die bekannten Autoren wie Itzik Manger und Mordechaj Gebirtig zu
       nennen“, sagt sie. Nicht zufällig habe es bis zum Zweiten Weltkrieg im
       litauischen Wilna (heute Vilnius), dem damaligen „Jerusalem des Nordens“,
       eine riesige jiddische Bibliothek gegeben. Heute residieren Restbestände im
       New Yorker YIVO Institute for Jewish Research.
       
       ## Lebendige Jiddisch-Szene weltweit
       
       Aber das Jiddische war lange eine vor allem gesprochene, kaum beforschte
       Sprache. Erst Salomo Birnbaum (1891–1989), der von 1922 bis zur Emigration
       1933 an der Uni Hamburg den ersten westeuropäischen Jiddisch-Lehrauftrag
       hatte, verfasste eine jiddische Grammatik.
       
       Das war weitsichtig, ist das Jiddische doch heute von Aussterben bedroht,
       und das spiegelt sich auch in der Vereinsstruktur. „Früher hatten wir viele
       Vereinsmitglieder, die Shoah-Überlebende waren – oder Emigranten aus
       Osteuropa, deren Großeltern noch Jiddisch sprachen“, sagt Mandos. „Diese
       Gruppe wird kleiner, die MuttersprachlerInnen sterben aus. Dafür haben wir
       jetzt einige jüngere Leute, die Jiddisch studieren.“
       
       Denn die Etikettierung des Jiddischen als Sprache der Holocaust-Opfer sei
       längst überholt. „Es gibt heute weltweit eine lebendige Jiddisch-Szene und
       etliche AutorInnen, die heute auf Jiddisch schreiben“, sagt sie.
       
       Schon lange sucht die Birnbaum-Gesellschaft diesem Anspruch auch selbst
       gerecht zu werden: Mehrere Erzählbände hat man vom Jiddischen ins Deutsche
       übersetzt. Und das, wie die 2016 verstorbene Vorsitzende [5][Dorothea
       Greve] einmal betonte, ohne den klischeehaft „heimeligen“ Duktus des
       Jiddischen zu (re-)produzieren.
       
       ## Erinnerung an Jüdisches Antifaschistische Komitee
       
       Dazu organisiert man Vorträge – bewusst auf Deutsch, um Außenstehende zu
       interessieren. Dazu gibt es Workshops und Lesekreise auf Jiddisch, man
       erweist vergessen AutorInnen die Ehre.
       
       „2021 galt das Jahresthema unserer Gesellschaft 13 linksgerichteten,
       männlichen, jüdischen Intellektuellen des sowjetischen ‚Jüdischen
       Antifaschistischen Komitees‘, die 1952 unter Stalin umgebracht wurden“,
       sagt sie. „Fünf von ihnen waren Poeten. In einem Konzert haben wir unter
       anderem vertonte Gedichte von ihnen präsentiert.“
       
       Ungelöst ist allerdings der Verbleib der rund 5.000 Bücher umfassenden
       Salomo-Birnbaum-Bibliothek. Für deren Gründung war die Gesellschaft 1995
       unter anderem initiiert worden. Von 2019 bis September 2021 hatten die
       Bücher im Gästehaus der Uni Hamburg residiert. Seither ist die Sammlung
       heimatlos, aber Mandos ist optimistisch: „Mit der Uni laufen gute
       Gespräche.“
       
       17 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Suche-nach-Identitaet/!5887956
   DIR [2] /Forscher-ueber-juedische-Manuskripte/!5476796
   DIR [3] /Juedischer-Friedhof-Altona-soll-Weltkulturerbe-werden/!5373268
   DIR [4] /Bericht-eines-Opfers-der-Judenverfolgung/!5738616
   DIR [5] /Nicht-Juedin-ueber-das-Jiddische/!5133100
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
       ## TAGS
       
   DIR Judentum
   DIR Shoa
   DIR Holocaust
   DIR Getto-Renten
   DIR Literatur
   DIR Juden
   DIR Schwerpunkt Stadtland
   DIR Juden in der Ukraine
   DIR Buch
   DIR orthodox
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Jüdische Sprache in Franken: Scholem Alechem in der Medine
       
       Lachoudisch ist die vergessene Sprache der fränkischen Juden. Das
       kulturelle Erbe von über 400 Jahren ist vom Aussterben bedroht.
       
   DIR Hamburger Sängerin über jüdische Musik: „Also habe ich Jiddisch gelernt“
       
       An jiddischen Liedern berührt Inge Mandos das Fehlen von Pathos. Um sie zu
       singen, sagt sie, müsse man auch die Sprache verstehen.
       
   DIR Jüdisches Neujahrsfest in Ukraine: Wider Scholem wet seyn oif der Welt
       
       Scholem, Frieden, ist der Wunsch der Jüdinnen und Juden von Lwiw zu Rosch
       Haschana. Aber wie können sie feiern, wenn Söhne und Töchter im Krieg sind?
       
   DIR Tagebücher junger Juden und Jüdinnen: „Freude ist für mich verboten“
       
       Jüdische Kinder und Jugendliche schrieben Tagebuch während der NS-Zeit.
       „Der papierene Freund“ macht einige der erschütternden Zeugnisse
       zugänglich.
       
   DIR Ex-Ultraorthodoxer über das Judentum: „Keine Angst, darauf kommt es an“
       
       Akiva Weingarten ist aus dem ultraorthodoxen jüdischen Leben ausgestiegen.
       Wie kam es zum Bruch? Ein Gespräch darüber – und seinen Blick auf
       Religiöses.