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       # taz.de -- Verkehrsunfälle in Berlin: Weit weg von der Vision
       
       > Eine Statistik der Unfallkommission zeigt, wo in Berlin die meisten
       > Menschen bei Verkehrsunfällen zu Schaden kommen. Ganz vorn liegt:
       > Friedrichshain.
       
   IMG Bild: Sieht ganz gut aus, ist es aber nicht: Verkehrsaufkommen am Frankfurter Tor
       
       Berlin taz | Das Frankfurter Tor in Friedrichshain ist einer gefährlichsten
       Orte Berlins – jedenfalls in Bezug auf die Häufigkeit von Verkehrsunfällen,
       bei denen Menschen Schaden erleiden. [1][Wie aus einer Statistik der
       Berliner Unfallkommission hervorgeht], kam es dort in den Jahren 2019–2021
       zu insgesamt 348 der Polizei gemeldeten Unfällen. In 70 Fällen wurden
       Personen verletzt, bei 10 Fällen handelte es sich um schwere Verletzungen.
       Damit „führt“ die Kreuzung im stadtweiten Ranking sogenannter
       Unfallschwerpunkte.
       
       Die Liste wurde von einer anonymen AntragstellerIn über das Portal „Frag
       den Staat“ angefragt und von der Berliner Polizei übermittelt. Sie weist
       insgesamt 1.504 Örtlichkeiten aus, wo innerhalb der beobachteten drei Jahre
       jeweils mindestens 5 Unfälle mit sogenannten Personenschäden verzeichnet
       wurden.
       
       Auf den ersten Plätzen rangieren hinter dem Frankfurter Tor die
       Anschlussstelle der A100 zur Seestraße an der Bezirksgrenze zwischen
       Charlottenburg und Mitte (482 Unfälle, davon 57 mit Personenschaden und 5
       mit Schwerverletzten), die Kreuzung Alexanderstraße / Karl-Liebknechtstraße
       und Memhardstraße in Mitte (253/55/3), der Louise-Schroederplatz im Wedding
       (138/52/10) und die Kreuzung Otto-Braun-Straße / Mollstraße (406/52/3).
       
       Die letztgenannten drei Orte befinden sich alle in Mitte. Danach folgen
       drei weitere Knotenpunkte in Friedrichshain-Kreuzberg: der Bereich rund um
       die Mehringbrücke über den Landwehrkanal und der Kreisverkehr am Kottbusser
       Tor in Kreuzberg sowie die Friedrichshainer Seite der Oberbaumbrücke.
       
       An insgesamt 135 Kreuzungen kam es zwischen 2019 und 2022 zu Unfällen mit
       mindestens 20 Personenschäden, an 563 Kreuzungen waren es mindestens 10
       verletzte Personen. Bei genauerer Betrachtung gibt es etliche
       Unfallschwerpunkte, die im „Ranking“ auf hintere Plätze rutschen, weil sie
       nicht als einzelner Knotenpunkt betrachtet werden. So kam es an den
       Einfahrten auf den Großen Stern rund um die Siegessäule zu insgesamt 780
       Unfällen (98 mit Personenschäden, 7 mit schweren Verletzungen). Im Fall des
       Ernst-Reuter-Platzes waren es 701 Unfälle (52 mit Personenschäden und 7 mit
       schweren Verletzungen).
       
       ## Weit weg von der Vision
       
       „Trauriger Platz 1“, twitterte der im Bezirk direkt gewählte grüne
       Abgeordnete Vasili Franco am Dienstag über das Frankfurter Tor. Gegenüber
       der taz räumte er ein, dass Berlin „vom Ziel der Vision Zero bekanntlich
       noch weit entfernt“ sei – um dem näherzukommen, brauche es „ein ganzes
       Bündel von Maßnahmen: angefangen bei der Verkehrsplanung, über die
       Einführung von Tempo 30 auch auf Hauptverkehrsstraßen und die Verpflichtung
       zum Einbau von Abbiegeassistenten in Lkws bis hin zur konsequenten Ahndung
       von Verstößen“. Wer keine Strafe zu befürchten habe, so Franco, „der
       überlegt sich dann bei Gelb vielleicht, ob er noch mal extra das Gaspedal
       durchdrückt“.
       
       Auf die Frage, ob in Berlin nicht die Grünen selbst die Verkehrswende in
       der Hand hätten, verwies Franco auf die Zuständigkeit des Bundes für
       Aspekte wie eine Reform der Straßenverkehrsordnung – [2][und die
       unrühmliche Rolle, die die FDP dabei spiele]. „Nicht nur der
       Zivilgesellschaft, sondern auch uns Grünen und auch Frau Jarasch geht die
       Verkehrswende zu langsam“, so der Abgeordnete. Am Frankfurter Tor, wo
       gerade ein Pop-up-Radweg verstetigt werde, „ist erst seit der Zuständigkeit
       der Grünen im Senat überhaupt etwas passiert. Ich bin überzeugt, dass wir
       die Partei sind, die am glaubwürdigsten für die Verkehrswende einsteht und
       die Vision Zero verfolgt.“
       
       Aber wie sieht der berlinweite Trend aus? Nehmen die Unfälle entsprechend
       dem Berliner Mobilitätsgesetz von 2018 mit seiner „Vision Zero“ ab? Laut
       dem Sprecher der Verwaltung von Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch
       (Grüne), Jan Thomsen, sind die Zahlen im Zeitraum 2019–2021 stark durch das
       Pandemiegeschehen beeinflusst. Im Jahrzehnt davor allerdings „haben die
       Unfallzahlen mit Toten bzw. Verletzten teils stark geschwankt“. Der
       „eindeutig positive Trend aus den Jahrzehnten davor“, als die Zahlen
       konstant rückläufig waren, „ließ sich noch nicht verstetigen“.
       
       Auch aus diesem Anlass erarbeite die Senatsverwaltung aktuell ein
       „Verkehrssicherheitsprogramm 2030, das die Vision Zero zum Ziel hat – wozu
       dann allerdings deutlich mehr gehört als der Umbau von Kreuzungen“.
       
       Maßnahmen für mehr Sicherheit wurden laut Thomsen bereits an 73
       Örtlichkeiten auf der Liste umgesetzt, bei etlichen weiteren befinde man
       sich in der Planungsphase. Hinzu komme die Tätigkeit der Unfallkommission,
       die Maßnahmen für jeden Knotenpunkt vorschlägt, an dem es zu tödlichen
       Unfällen gekommen ist – die tauchen gar nicht unbedingt auf der Liste auf.
       
       ## Minimale Maßnahmen?
       
       Scharfe Kritik an diesem Aspekt kommt vom Verein Changing Cities. Laut
       dessen Sprecherin Ragnhild Sørensen sind die Maßnahmen, die nach einem
       Unfall ergriffen werden, „oft minimal“. In vielen Fällen werde „trotz des
       Mobilitätsgesetzes die Leistungsfähigkeit der Kfz höher priorisiert als die
       Sicherheit des Umweltverbundes, also des Fuß-, Rad- und öffentlichen
       Verkehrs“.
       
       Sørensen sagte der taz außerdem, wenn über die Optimierung einer Kreuzung
       diskutiert werde, erfolge „NIE ein Blick ins Radverkehrsnetz, mit dem Ziel
       Änderungen den Standards des Radverkehrsplans entsprechend vorzunehmen. Die
       Chance, Kreuzungen tatsächlich sicherer zu machen, wird so vertan.“
       
       Im Fall der schwer überschaubaren Doppelkreuzung am „Königstor“ zwischen
       der westlichen Spitze des Volksparks Friedrichshain und dem Straßenzug
       Greifswalder Straße / Otto-Braun-Straße, kommt es jedenfalls vom heutigen
       Mittwoch an zu einwöchigen Umgestaltungsarbeiten. [3][Ende 2021 war dort
       eine Radfahrerin überfahren worden], noch unter der letzten
       Verkehrssenatorin Regine Günther wurde mit ersten Maßnahmen wie
       Neumarkierungen begonnen.
       
       Grundlage für die anstehenden Arbeiten sind ebenfalls Untersuchungen der
       Unfallkommission. Laut Jarasch-Sprecher Thomsen handelt es sich bei dem
       Knotenpunkt eigentlich von den Zahlen her nicht um einen Unfallschwerpunkt.
       Ein Umbau der Ampeln und eine Neuverteilung des Straßenraums sei aber auf
       der großen Fläche mit vielen Fahrstreifen empfohlen worden, um künftige
       Konflikte zu vermeiden.
       
       13 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://fragdenstaat.de/anfrage/dreijahreskarte-aller-knotenpunkte-in-berlin-unfaelle-mit-personenschaden-rangliste-2019-2021/#nachricht-754810
   DIR [2] /Gesetz-fuer-Verkehrswende/!5861065
   DIR [3] /Getoetete-Radfahrerin-in-Berlin/!5821702
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claudius Prößer
       
       ## TAGS
       
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