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       # taz.de -- Martin Scorseses Film „After Hours“: New York nach Mitternacht
       
       > Grob unterschätzt oder zurecht fast vergessen? Das Hamburger
       > Metropolis-Kino holt Martin Scorseses kafkaeske Komödie „After Hours“ aus
       > dem Archiv.
       
   IMG Bild: Karriere mit Aufs und Abs: Martin Scorsese hinter einer Filmkamera
       
       Ein Mann fasst einen Plan. Keinen großen, nein, gerade mal um die
       Gestaltung eines Abend, einer Nacht vielleicht geht es. Ein kleiner
       Ausbruch soll es werden die zeitweise Flucht aus dem langweiligen Dasein
       als Bildschirmarbeiter, zehn Jahre, bevor [1][Douglas Couplands Roman] das
       Wort „Microserfs“ prägte für die Quasi-Leibeigenen der Tech-Industrie.
       Nicht mal so ein genialischer Programmierer scheint aber unsere Hauptfigur
       zu sein, Paul Hacket, gespielt von Griffin Dunne, der den ganzen Film auch
       co-produziert hat.
       
       Ja, es sind andere Zeiten: Der nassforsche junge Mann, dem Paul gleich zu
       Beginn die Kniffe der Texteingabe und -verarbeitung beibringen soll, hat
       nicht vor, diesen Computerkrams für den Rest seines Lebens zu machen: Sein
       eigenes [2][Magazin] will er gründen, richtig auf Papier, ein Forum für
       Autoren und Intellektuelle, die nirgendwo sonst gedruckt werden.
       
       Eine Komödien-Eröffnung heutzutage sähe wohl gerade umgekehrt aus. Und auch
       wenn Pauls Nacht ganz anders verlaufen wird, als er es sich vorgestellt
       hat: „After Hours“ ist ganz eindeutig Komödie; eine absurde, düstere; eine,
       die einerseits subtiler funktioniert, auch geschickter konstruiert ist als
       vieles damals das Genre Ausmachende (Drehbuch: Joseph Minion) – und dann
       wieder nicht durchweg gut gealtert ist.
       
       Über Gedrucktes entspinnt sich der Plot: Sie liebe das Buch, sagt die
       Unbekannte einen Tisch weiter (Rosanna Arquette), als Paul im
       Schnellrestaurant sitzt, Henry Millers „Wendekreis des Krebses“ vor sich.
       Kein Buch sei das, fährt sie fort, vielmehr eine „verlängerte Beleidigung“,
       ein Spucken ins Gesicht der Kunst – es gibt eine Lesart von „After Hours“
       als ganz wesentlich geprägt von Macher [3][Martin Scorseses] Enttäuschung,
       auch Frustration mit der eigenen Branche. Als eine Art
       Wieder-in-Form-Kommen hat er die Produktion bezeichnet, ein Reha-Programm,
       sozusagen, nach dem einigermaßen spektakulär gefloppten „King of Comedy“
       von 1982 – seiner vielleicht einzigen weiteren Komödie.
       
       Immerhin: 1986 brachte „After Hours“ ihm die Auszeichnung als Bester
       Regisseur bei den [4][Filmfestspielen in Cannes] ein. Und rein technisch
       war es auch nicht gleich die nächste Pleite: Gekostet haben soll „After
       Hours“ einen mittleren einstelligen Millionenbetrag. Der Erlös lag ungefähr
       beim Doppelten. Auch die Kritiken waren 1985 [5][gar nicht schlecht].
       Mitunter wurde [6][ein gewisses Unverständnis deutlich], womit genau man es
       da zu tun habe – aber gelungen, doch, das sei der Film.
       
       ## Beinahe untergegangen im Oeuvre
       
       Was für andere Regisseure – und erst recht -*innen – also ein
       karrierebegründendes Stück Arbeit hätte sein können: Bei einem wie Scorsese
       – der 1976 bereits eine Goldene Palme aus Cannes mitbrachte, manches Auf
       und Ab schon hinter sich hatte –, kann so was schon mal geradezu untergehen
       im großen, nicht durchweg gelingenden, aber immer wieder spektakulären
       Schaffen.
       
       „Wie ein Independent-Film“ sei „After Hours“, hat Scorsese selbst später
       gesagt. Auch als eine Art Work-out hat er die Quasi-Auftragsarbeit
       bezeichnet; als Vorbereitung darauf, sollte das havarierte „Passion
       Christi“-Projekt doch noch in die Nähe einer Realisierung kommen: Dieser
       Film war 1983 gecancelt worden, nach massivem Druck organisierter
       christlicher Gruppen. „Ich wollte herausfinden, ob ich noch die Energie
       habe, schnell zu drehen“, so Scorsese. „Es braucht eine bestimmte
       Leidenschaft, um 'Mean Streets’ zu machen, 'Taxi Driver’ oder 'Raging
       Bull’. Die musste ich wiederfinden.“
       
       Damit erinnert er an eine bei allen Kanon-Streitereien kaum umstößliche
       große frühe Werkphase; verbunden werden die drei Referenzfilme einerseits
       durch Epoche machende Performances insbesondere von Robert de Niro – aber
       auch durch den Schauplatz: Sie spielen stets in einem denkbar wenig
       glamourösen New York, einem Ort der Randständigen, Ausgegrenzten, Sich auch
       im Wortsinne Durchboxenden.
       
       ## Hauptrolle für New York
       
       Ein noch nicht ins Unerschwingliche gentrifiziertes New York, genauer,
       Manhattan, spielt auch in „After Hours“ eine gewichtige Rolle, eines der
       [7][Nischen besetzenden, transgressiven Kunst] – ironischerweise je gerade
       einer der Faktoren, die Teuerung und Verdrängung vorzubereiten helfen.
       
       Bei allem zeittypischen Kolorit, allen mal sehr, mal auch weniger gekonnten
       Subkultur-Anspielungen, auch deren Persiflierung: Es hat etwas von antiken
       Stoffen, wie der Hauptfigur da mitgespielt wird. Denn es müssen doch
       eigentlich schon höhere Mächte am Werk sein, die dem gelangweilten Paul
       irgendeine Lektion erteilen wollen. Anders ist sie ja kaum erklärbar, die
       nicht enden wollende Aneinanderreihung von Missgeschick, die den Film
       strukturiert; beginnend mit einem Kugelschreiber, der nicht schreibt, über
       eine davongewehte Banknote und also unbezahlt bleibende Taxipassage ins ihm
       nicht vertraute Downtown; oder der kafkaesk anmutende Umstand, dass just um
       Mitternacht die U-Bahn-Preise angehoben wurden und Pauls Kleingeld nun
       nicht reicht. Er will irgendwann ja nur noch nach Hause, der – auf dem
       Stadtplan ja wirklich unten liegenden – Unterwelt entkommen, dieser Hiob
       mit dem perfekten Haar: Endlich wieder Langweilen! Was ihm während- und
       stattdessen alles widerfährt, ist äußerst vergnüglich, einen etwas robusten
       Sinn für Humor vorausgesetzt.
       
       Heute wird „After Hours“ auch schon mal als „Kultfilm“ bezeichnet, ein sehr
       fragwürdiges Label, mindestens aber als lange sträflich unterschätzt. Vor
       ein paar Jahren gab es einen offenbar mäßig gelungenen Versuch, [8][aus dem
       Stoff eine Oper zu machen], angesiedelt im Berliner Club-Milieu.
       
       Sicher ist: Mit „After Hours“ konnte Scorsese auch Zweifelnde daran
       erinnern, dass mit ihm noch zu rechen sein würde. Ohne den Film gäbe es den
       Scorsese der 90er- und folgenden Jahre nicht. Wer weiß, ob er nicht einfach
       geendet wäre als Werber; oder vor irgendeinem Bildschirm.
       
       15 Dec 2022
       
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