URI: 
       # taz.de -- Prozess wegen Brandanschlägen: Obdachloser zündet Obdachlose an
       
       > Vor dem Hamburger Landgericht muss sich seit Mittwoch ein 35-Jähriger
       > verantworten. Er soll im Frühjahr mehrere ebenfalls Obdachlose attackiert
       > haben.
       
   IMG Bild: Schweigt zu den Vorwürfen: Angeklagter vor dem Hamburger Landgericht
       
       Hamburg taz | Zu Beginn des Prozesses sitzt der angeklagte Arkadiusz W.
       ruhig da und starrt mit leerem Blick [1][zu den Fenstern des Gerichtssaals
       im Hamburger Strafjustizgebäude], durch die man auf die angrenzende
       Haftanstalt blicken kann. Dort sitzt er seit einem halben Jahr in
       Untersuchungshaft. Die Ruhe, die der Angeklagte ausstrahlt, passt kaum zu
       den Vorwürfen, die die Staatsanwaltschaft gegen ihn am Mittwoch ausführt.
       
       Sie wirft ihm den versuchten Mord [2][zweier Obdachloser] in Tateinheit mit
       gefährlicher Körperverletzung, Sachbeschädigung sowie vorsätzlicher
       Körperverletzung vor. W. soll dabei heimtückisch und grausam gehandelt
       haben. Begangen haben soll der 35-Jährige die Taten im Mai und Juni dieses
       Jahres.
       
       So soll es im Mai am Bahnhof Altona zu einem Streit zwischen ihm und einem
       34-Jährigen gekommen sein. Im Zuge des Handgemenges soll er laut Anklage
       den Schlafsack des Opfers angezündet haben.
       
       Nur wenige Wochen später kam es zu einer weiteren Attacke auf einen
       Obdachlosen. [3][Während dieser schlief,] soll der Angeklagte eine
       brennende Flüssigkeit über den Jackenärmel des Opfers gegossen haben,
       wodurch es Verbrennungen am rechten Oberarm erlitt. Ein unbekannter
       Mittäter filmte die Tat. Das Video, das W. auf seinem Handy gehabt haben
       soll, gilt als wichtiger Beweis.
       
       ## Der Angeklagte schweigt
       
       Einem dritten Obdachlosen soll der 35-Jährige nach einem Streit am
       Hauptbahnhof einen Faustschlag ins Gesicht versetzt haben. Die am Mittwoch
       vernommenen Zeugen berichteten teils davon, dass der Angeklagte zu den
       Tatzeitpunkten betrunken gewesen sei. Das habe er, so einer der Zeugen, an
       der „lallenden Sprache“ erkennen können.
       
       W. war, wie die beiden Opfer, zu dieser Zeit obdachlos und nach Angaben des
       Landgerichts alkoholabhängig. Zu Beginn des Prozesses erklärte sein Anwalt,
       dass der Angeklagte sich nicht zu den Vorwürfen äußern wolle.
       
       Jedoch schilderte eines der Opfer am Mittwoch einen der Brandanschläge. Da
       der Geschädigte obdachlos sei und kein direkter Kontakt bestehe, war zuvor
       zwar auch dem Gericht nicht klar, ob er als Zeuge erscheinen würde. Doch er
       tat es.
       
       Christopher A. sei gelernter Metallbauer und lebe schon lange Zeit auf der
       Straße. Der Vorsitzende Richter Matthias Steinmann fragt direkt, ob er
       heute etwas getrunken habe. „Ja, so 20 Kurze“, antwortet er. Er sei vor
       vier Tagen aus der Entgiftung entlassen worden. „Und wieso direkt wieder am
       trinken?“, fragt der Richter. A. zuckt mit den Schultern: „Umfeld eben.“
       
       ## Opfer kann sich kaum erinnern
       
       Auf den Vorfall am Altonaer Bahnhof angesprochen, gibt er an, an diesem
       Abend „total breit gewesen“ zu sein – er könne sich kaum erinnern. Er habe
       in der öffentlichen Toilette des Bahnhofs Altona geschlafen und sei davon
       aufgewacht, dass es „warm wurde“. Dann habe er festgestellt, dass sein
       Schlafsack brennt. Diesen habe er dann direkt mit einem Bier gelöscht. „Ich
       kann aber nicht sagen, ob der das war“, sagt A. anschließend und nickt in
       die Richtung des Beschuldigten.
       
       Es habe auch nur ein bisschen gebrannt und sei „gar nicht so schlimm
       gewesen“. Dabei zieht er seinen Pullover nach oben und zeigt dem Richter
       seinen vermeintlich verletzten Arm. Der Richter inspiziert den Arm nur von
       Weitem und sieht dabei nicht sonderlich geschockt aus.
       
       „Kennen Sie den Beschuldigten denn?“, fragt er dann. – „Ja wir sind
       befreundet“. Sichtlich verwundert fragt der Richter, ob die beiden sich
       gestritten hätten. Nein, ganz im Gegenteil, man passe aufeinander auf,
       antwortet das Opfer. In der Vergangenheit habe es zwar kleinere
       „Streitereien unter Kumpels“ gegeben, aber nichts Gravierendes.
       
       Die Frage, wer der Täter gewesen sein könnte, kann A. nicht beantworten, er
       habe schließlich „fest geschlafen und nichts mitgekriegt“.
       
       Am Ende der Befragung steht der Betroffene auf und fragt den Richter, ob er
       sich noch kurz verabschieden könne. Ohne eine Antwort abzuwarten, streckt
       er dem Angeklagten seine Hand entgegen, der sie wohlwollend schüttelt. Auch
       hierbei wirkt der Angeklagte überraschend ruhig. Jedoch auch ein wenig
       erleichtert.
       
       Fünf weitere Verhandlungstermine hat das Landgericht bis Ende Januar
       angesetzt.
       
       15 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Bestechlicher-Schoeffe/!5899099
   DIR [2] /Leben-in-der-eigenen-Wohnung/!5894272
   DIR [3] /Schlingensief-Projekt-in-Hamburg/!5885594
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paul Weinheimer
       
       ## TAGS
       
   DIR Obdachlosigkeit in Hamburg
   DIR Hamburg
   DIR Prozess
   DIR Obdachlosigkeit
   DIR IG
   DIR IG
   DIR Housing First
   DIR Obdachlosigkeit in Hamburg
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Todesfälle von wohnungslosen Menschen: Unsichtbare Leichen
       
       Wohnungslose Menschen werden immer wieder Opfer von tödlicher Gewalt. Eine
       taz-Recherche rekonstruiert die bestätigten Todesfälle von 2022.
       
   DIR Bundesverdienstkreuz für Dominik Bloh: Mobile Duschen für Obdachlose
       
       Dominik Bloh war selbst obdachlos. Nun betreibt er einen umgebauten Bus, in
       dem Obdachlose duschen können. Dafür bekam er das Bundesverdienstkreuz.
       
   DIR Leben in der eigenen Wohnung: Obdachlose helfen Obdachlosen
       
       Vor gut einem Jahr startete in Bremen Housing First als Modellprojekt. Es
       läuft gut, auch dank Mitarbeitern, die selbst einmal obdachlos waren.
       
   DIR Schlingensief-Projekt in Hamburg: Obdachlosenprojekt bald obdachlos
       
       Nach 25 Jahren steht die selbstverwaltetete „Mission“ vor dem Aus. Die
       Stadt hat den Mietvertrag gekündigt.