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       # taz.de -- Obdachlose in Winter: Das Sterben auf den Straßen beginnt
       
       > Hamburg zwingt Obdachlose, trotz Minusgraden tagsüber die Gebäude des
       > Winternotprogramms zu verlassen. Ein erstes Kälteopfer gibt es wohl seit
       > Montag.
       
   IMG Bild: Schon länger und vergeblich kämpfen Helfende in Hamburg für ein ganztägig offenes Winternotprogramm
       
       Hamburg taz | Jedes Jahr wieder gibt es in Hamburg politischen Streit
       darum, ob es richtig ist, dass die Stadt die rund 700 Menschen, die in zwei
       Groß-Unterkünften im [1][Winternotprogramm] übernachten, tagsüber von 9.30
       bis 17 Uhr auf die Straße schickt. Die SPD-geführte Sozialbehörde hält
       eisern daran fest. Daran änderten auch die eisigen Temperaturen der
       jüngsten Tage nichts.
       
       Gefragt, ob die Menschen auch angesichts der aktuellen Kälte die
       Notunterkünfte tagsüber verlassen müssen, erklärte Behördensprecher Martin
       Helfrich am Donnerstag früh um 10.10 Uhr: „Bei besonderen Wetterlagen gibt
       es die Möglichkeit der Tagesöffnung, eine entsprechende Wetterwarnung des
       DWD liegt bislang noch nicht vor.“
       
       Zu dem Zeitpunkt hatten die Menschen ihre Unterkünfte in der Friesenstraße
       in den Stadtteilen Hammerbrook und Billbrook schon seit 40 Minuten
       verlassen müssen. Sie sollen – so die Theorie – zu Tagesaufenthaltsstätten
       in anderen Stadtteilen fahren, wo sie auch etwas zu essen bekommen. Doch
       die sind nicht immer offen und haben auch nur begrenzt Plätze.
       
       Und ein Blick aufs Thermometer zeigte minus drei Grad. Der Deutsche
       Wetterdienst (DWD) warnt für Norddeutschland vor Schnee und kalten
       Temperaturen. Für Hamburg galt am Donnerstag Vormittag die gelbe „Warnstufe
       1“, laut einer Sprecherin hieß das Schnee bis fünf Zentimeter und Kälte bis
       minus fünf Grad. Nördlich von Hamburg galt die orange „Warnstufe 2“, mit
       Schnee bis zehn Zentimetern. Im Lauf des Tages weitete sich diese orange
       Zone auf der Karte rund um Hamburg Richtung Niedersachsen aus.
       
       ## Schnee in ganz Norddeutschland
       
       „Jeder Mensch, der aus dem Fenster guckt und überlegt, will ich da draußen
       stundenlang rumlaufen, sagt: nein, will ich nicht, weil es ungesund ist“,
       sagt Jörn Sturm, [2][Geschäftsführer des Straßenmagazins Hinz & Kunzt].
       „Herr Helfrich guckt auf den Wetterbericht, das ist der Fehler.“ Der
       Deutsche Wetterdienst habe nicht die Aufgabe, der Sozialbehörde zu sagen,
       ob es menschenwürdig ist, bei dieser Kälte draußen zu sein.
       
       Bei diesen kalten Temperaturen bestehe für die oft gesundheitlich
       geschwächten Menschen eine „Gefahr für Leib und Leben“, sagt Ronald Kelm
       vom [3][Gesundheitsmobil], das ehrenamtlich Obdachlose medizinisch
       versorgt. „Einen Schutz vor Erfrieren muss es auch von 9.30 bis 17 Uhr
       geben.“ Deshalb müsse unbedingt die Winterunterkunft tagsüber offen sein.
       
       Das Gesundheitsmobil habe vergangene Woche durch das Ausstellen eines
       ärztlichen Attests für zwei Menschen erreicht, dass sie drinnen bleiben
       durften. „Der eine hatte eine Lungenentzündung, der andere konnte kaum
       gehen“, sagt Kelm.
       
       „Dass Menschen trotz der eisigen Temperaturen tagsüber das
       Winternotprogramm verlassen müssen, ist unmenschlich und macht mich
       fassungslos“, sagt die [4][Linken-Politikerin Stephanie Rose.] Im Winter
       2020/2021 seien binnen weniger Wochen 13 Menschen auf Hamburg Straßen
       verstorben. „Das darf sich nicht wiederholen“.
       
       ## Polizei fand Mann ohne Puls und Atmung
       
       Ein erstes Kälteopfer in diesem Winter gibt es offenbar seit Montag. Ein
       Obdachloser habe vor einem Supermarkt nahe des Hauptbahnhofs gelegen – mit
       einer Körpertemperatur von unter 30 Grad. Die Polizeipressestelle
       bestätigt, dass es am Abend des 5. Dezember so einen Einsatz dort gab.
       
       „Polizisten bemerkten eine leblos wirkende Person. Es konnten weder Puls
       noch Atmung festgestellt werden. Es wurden Reanimationsmaßnahmen
       durchgeführt und die Person durch die Feuerwehr ins Krankenhaus verbracht“,
       heißt es auf Nachfrage. Am Montag ist der 58-jährige Pole verstorben. Die
       Ermittlungen zur Todesursache laufen noch an, so die Polizei weiter. Es
       gebe keinen Hinweis auf Fremdverschulden.
       
       Auch Klaus Wicher, der Hamburger [5][Landesvorsitzende des Sozialverbandes
       (SovD)], unterstützt die Kritik am Winternotprogramm. Zwar werde dort
       inzwischen einiges besser gemacht, aber dass die Menschen tagsüber in die
       Kälte müssen, sei „unmenschlich“ und gehe an die Substanz der Gesundheit.
       „Die Menschen sind ständig auf der Suche nach einem warmen Ort, werden
       oftmals vertrieben und müssen wieder in die Kälte.“
       
       Besonders besorgt sei er um [6][die obdachlosen EU-Bürger] aus Polen,
       Rumänien und Bulgarien, die aufgrund ihres Status nicht einmal Anspruch auf
       den Schlafplatz im Winternotprogramm haben – so wie der am Montag
       Verstorbene. Für sie gibt es nur eine Wärmestube mit Sitzplätzen. „Das
       finden wir nicht in Ordnung“, sagt Wicher. „Was spricht dagegen, diesen
       Menschen ein Bett zu geben und mit ihnen ins Gespräch zu kommen?“
       
       Der SoVD ist im Verwaltungsausschuss der Sozialbehörde vertreten, in dem
       auch über das Winternotprogramm gesprochen wird. Er habe dort auf das
       Problem hingewiesen, sagt Wicher, bekomme aber zur Antwort, dass Hamburg,
       wenn das Winternotprogramm zu gut sei, Obdachlose anlocken könnte. Wicher:
       „Ich habe Zweifel, ob das stimmt.“
       
       Aktualisierung: Etwa eine halbe Stunde nach Erscheinen dieses Berichts
       schickte die Stadt eine Mail an verschiedene Hilfseinrichtungen, dass das
       Winternotprogramm „während der anhaltenden Kälteperiode“ täglich zwei
       Stunden länger geöffnet habe. Die Menschen müssten die Räume erst um 10.30
       Uhr verlassen und könnten schon um 16 Uhr zurück. Allerdings soll das nur
       für drei Tage bis einschließlich Sonntag gelten. Denn ab kommender Woche
       werde ja wieder „mit milderen Temperaturen gerechnet“. Nur: Am Montag soll
       es regnen und mit minus zwei bis plus sechs Grad ist es immer noch zu kalt
       fürs Draußenleben.
       
       15 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.hamburg.de/winternotprogramm-obdachlose/
   DIR [2] https://www.hinzundkunzt.de/winternotprogramm-tagsueber-oeffnen-2/
   DIR [3] https://www.gesundheitsmobil-hamburg.de/
   DIR [4] https://www.die-linke-hamburg.de/presse/pressemitteilungen/detail/obdachlose-und-corona-winternotprogramm-ganztaegig-oeffnen/
   DIR [5] https://www.sovd-hh.de/news-service/presse/winternotprogramm-auch-tagsueber-muessen-obdachlosen-ins-warme-duerfen
   DIR [6] /Wohlfahrtssprecher-ueber-Arbeitsmigranten/!5889074
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kaija Kutter
       
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