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       # taz.de -- Rilke-Erbe für Marbach: Nachlass der Superlative
       
       > 10.000 Manuskriptseiten von Rainer Maria Rilke gehen an das Deutsche
       > Literaturarchiv Marbach. Bislang kümmerten sich darum die Nachkommen des
       > Poeten.
       
   IMG Bild: Das Ehepaar Rainer Maria Rilke und Clara Westhoff
       
       Wenn Dichter hundert Jahre nach ihrem Tod noch einmal für Schlagzeilen
       sorgen, dann geht es meist um überraschende Funde oder skandalträchtige
       Biografien. Beim „Jahrhundertankauf“ des sogenannten „Gernsbacher Archivs“
       Rainer Maria Rilkes ist es der schiere Umfang an Handschriften und anderen
       Zeugnissen eines der berühmtesten deutschsprachigen Dichter, der in der
       Literaturwelt für Aufregung sorgt.
       
       Zehntausend handschriftliche Seiten und 2.500 Briefentwürfe vom Meister
       selbst, dazu 6.500 Briefe an ihn und 86 Notizbücher, neben Büchern mit
       Notationen. Die systematische Auswertung des letzten großen Nachlasses
       [1][eines Dichters der Moderne] in Privatbesitz werde das Bild von Rilke
       „etwas verändern“, sagte die Direktorin des Deutschen Literaturarchivs in
       Marbach, Sandra Richter, bei der Vorstellung des Archivs in Berlin fast
       etwas übervorsichtig.
       
       Selbst wer kaum ein Gedicht kennt, kennt Verse von Rilke. Den „Panther“
       („Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine
       Welt“ oder den „Herbsttag“ („Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines
       mehr“). Rilke ist Schulstoff und immer mal wieder auch findet er Eingang in
       die Popkultur, selbst Lady Gaga hat sich seine Worte unter die Haut
       tätowieren lassen.
       
       Kein Wunder, dass nicht nur die Fachwelt elektrisiert ist, wenn sein Denken
       und Arbeiten nun noch besser ausgeleuchtet werden können. Rainer Maria
       Rilke, der Vielschreiber und Vielreisende, der Einfluss von Mentoren und
       Mäzenen und all den Frauen, die ihn umgaben, lässt sich nun genauer
       erforschen.
       
       ## Akribischer Handwerker der Sprache
       
       Unveröffentlichte Gedichte wie auch eng gekritzelte Entwürfe späterer
       Meisterwerke zeigen den akribischen Handwerker der Sprache. Zur teilweise
       bekannten ausufernden Korrespondenz mit den Intellektuellen seiner Zeit
       kann man nun die Antworten lesen. Die Notizen in den Büchern, etwa in
       [2][Spenglers „Untergang des Abendlandes“], versprechen einen Einblick in
       die Art, wie sich Rilke mit den Gedanken seiner Zeit auseinandergesetzt hat
       und welche Spuren sie in seinem Werk hinterlassen.
       
       Es ist nicht so, dass dieser schier unüberschaubare Einblick in die
       geistige Arbeit Rilkes bisher unbekannt oder unzugänglich gewesen wäre. Die
       Papiere lagerten, offenbar wohlgeordnet, zuletzt im Privathaus der Urenkel
       Rainer Maria Rilkes im badischen Gernsbach. Literaturwissenschaftler
       konnten darin stöbern, ein Verzeichnis gab es jedoch offenbar nicht. Das
       Archiv war seit Rilkes frühem Tod von seinen Nachkommen gepflegt worden,
       bis zum Kriegsende zunächst in Weimar von seiner Tochter Ruth Sieber-Rilke.
       
       Im nahen Leipzig residierte damals der Verleger des Dichters, Anton
       Kippenberg. Gemeinsam veröffentlichten sie schon in den 1920er Jahren im
       Inselverlag Briefe aus diesem Arsenal. Nach dem Krieg und kurz vor der
       Gründung der DDR brachte Ruth Sieber-Rilke das Archiv dann bei Rilkes
       erster Frau, der Bildhauerin Clara Westhoff in Fischerhude bei Bremen
       unter.
       
       Nach ihrem Tod 1972 findet das Archiv im Privathaus der Enkelin Hella
       Sieber-Rilke in Gernsbach seine Heimat. Nun ist auch sie verstorben und
       innerhalb eines knappen Jahres konnte das Literaturarchiv Marbach diesen
       Nachlass nun erwerben.
       
       ## Kaufsumme unbekannt
       
       „Wir haben 70 Jahre auf diesen Ankauf hingearbeitet“, sagt Sandra Richter,
       die selbst schon auf dem Sofa in Gernsbach in den Handschriften hat stöbern
       dürfen. Ihre Vorgänger hatten noch vergeblich versucht, die Familie von der
       Übergabe nach Marbach zu überzeugen. Jetzt ging alles sehr schnell und sehr
       diskret. Über die Kaufsumme schweigen sich beide Seiten aus, und das,
       obwohl viel öffentliches Geld von Bund und Ländern eingesetzt worden sein
       dürfte. Die Diskretion helfe, Steuergelder zu sparen, erklärt der Leiter
       der Archivabteilung Marbach, Ulrich von Bülow. Denn wären die Zahlen
       bekannt, würde das für künftige Erwerbungen die Preise treiben.
       
       „Wir wollen Rilkes Nachlass nun zum Sprechen bringen“, sagt Sandra Richter.
       Sie kündigte eine erste große Ausstellung zum 150. Geburtstag des Dichters
       2025 an, die ein Jahr später zu seinem 100. Todestag enden soll. Dann hat
       die Arbeit der Archivare wohl gerade erst begonnen.
       
       5 Dec 2022
       
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