URI: 
       # taz.de -- Stahlproduktion in Deutschland: „Eine neue industrielle Revolution“
       
       > Wirtschaftsminister Habeck ist nach Namibia aufgebrochen, um mehr grünen
       > Wasserstoff für Deutschland zu beschaffen. Ist die Industrie schon bereit
       > dafür? Ein Besuch in Deutschlands größtem Stahlwerk.
       
   IMG Bild: Deutschlands größtes Stahlwerk, in Duisburg direkt am Rhein
       
       Duisburg taz | Gefräßig ist der Koloss. Die rostgrauen Frachtkähne drängeln
       sich im Hafenbecken. Wieder wird einer an die metallene Kaimauer geschoben.
       Arbeiter in gelben Jacken machen ihn mit Stahltrossen fest. Dann rollt oben
       auf Schienen der Kranbagger heran, um das Eisenerz auszuladen und es auf
       die Halde zu kippen. Vielleicht 15 Meter hoch ist diese und 100 Meter lang.
       Eine solche Menge stillt den Hunger des Stahlwerks für etwa eine Woche.
       
       Auf dem gegenüberliegenden linken Ufer türmen sich ähnliche Mengen
       Steinkohle. Dahinter steht der schwarze Turm der Kokerei, die Kohle zu Koks
       veredelt – dem Brennstoff, ohne den die Stahlproduktion nicht funktioniert.
       Und doch sollen die Berge auf dieser Seite des Hafenbeckens in den
       kommenden Jahren verschwinden.
       
       Aber wie schmilzt man Erz ohne Kohle? Das ist das Problem, das Thyssenkrupp
       lösen muss, wenn das [1][größte Stahlwerk Europas in Duisburg] überleben
       will. Wenn man statt Kohle [2][Wasserstoff] einsetzt, der mit Ökostrom
       gewonnen wurde, entsteht im Zuge der Stahlproduktion kein CO2 mehr, sondern
       am Ende nur noch Wasserdampf.
       
       „Wasserstoff ist die neue Kohle“, sagt Bettina Hübschen, rötliche Haare,
       runde Brille. Seit 2007 ist sie bei Thyssenkrupp Steel. Etwa 50 Leute
       arbeiten unter ihrer Führung an der klimafreundlichen Transformation des
       Stahlwerks, dem Ersatz von Kohle durch Wasserstoff. „Wir haben eine hohe
       Dynamik“, nickt sie. Das ist eine Managerinnen-Formulierung für Zeitdruck
       und Stress.
       
       ## Verhandlungen über staatliche Förderung
       
       Um zum Hochofen zu kommen, dauert es auch im Auto ein bisschen. Das
       Industrieareal nördlich der Duisburger Innenstadt belegt eine Fläche
       fünfmal so groß wie der Kleinstaat Monaco – Kraftwerke, rauchende
       Schornsteine, kilometerlange Leitungen auf Trägern über und neben den
       Straßen, verrußte Hallen so groß, dass Schiffe reinpassen.
       
       Das kantige Herz des Werks ragt Dutzende Meter in die Höhe, rötlich
       verkleidet, eingerahmt von einem Labyrinth aus Schloten, Röhren und
       Metallkonstruktionen. Hier wird das Eisenerz geschmolzen, die Lava des
       glühenden Stahls fließt heraus. Solche Höllenmaschinen müssen komplett
       ersetzt werden, damit die Schmelze mit Wasserstoff funktioniert.
       
       Dass das passiert, hat der Konzern schon entschieden. 2026 soll der erste
       Ofen umgestellt sein. Das sind nur drei bis vier Jahre. Noch in diesem Jahr
       will man die Aufträge an die Anlagenbauer vergeben. „Da darf nichts
       dazwischenkommen“, sagt Bettina Hübschen.
       
       Über 2 Milliarden Euro soll das Vorhaben kosten – allerdings nicht nur Geld
       von Thyssenkrupp, sondern auch vom Staat. „Anfangs rechnet sich die
       Produktion ohne Förderung nicht“, heißt es beim Unternehmen. Um welche
       Subventionen es geht, wird nicht verraten. Man kann jedoch vermuten, dass
       sich die Verhandlungen um etwa eine Milliarde Euro drehen, vielleicht die
       Hälfte der Investitionskosten. Eine vergleichbare Summe soll die Salzgitter
       AG für den ähnlichen Umbau ihres Stahlwerks bekommen.
       
       ## Woher kommt der Wasserstoff?
       
       Das Ganze ist ein gigantisches Experiment, nicht nur ein unternehmerisches,
       sondern auch ein gesellschaftliches. Denn die Lage sieht so aus: Die
       künftige Produktionskette für grünen Wasserstoff ist noch nicht
       geschlossen.
       
       Nötig sind zusätzliche, sehr große Wind- und Solarkraftwerke;
       Entsalzungsanlagen, falls der Wasserstoff aus Meerwasser gewonnen wird;
       Elektrolyseure, die Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff spalten; Fabriken
       zur Verflüssigung des Wasserstoffs, wenn er über große Entfernungen
       transportiert werden muss; Anlagen, um ihn in Gas zurückzuverwandeln.
       Problematisch ist dabei unter anderem, dass der Energieverlust zunimmt, je
       öfter man den Wasserstoff umwandelt. Auch die Kosten steigen damit
       erheblich.
       
       Aber funktioniert Wasserstoff (H2) in der Stahlproduktion überhaupt? Die
       Technikerinnen und Techniker sind optimistisch, dass es klappt. Doch heute
       sei vieles noch Theorie, meint Hübschen. Denn nirgendwo auf der Welt gibt
       es bisher eine großtechnische Stahlproduktion auf H2-Basis. „Wir bauen
       erst mal eine Versuchsanlage“, erklärt die Thyssenkrupp-Managerin, „die
       soll 2024 fertig sein.“ Alles Mögliche kann auf dem Weg dorthin passieren.
       
       Hinzu kommen weitere Fragen, die ebenfalls nicht unwichtig sind. Woher
       sollen die großen Mengen grünen Wasserstoffs kommen? Das Duisburger
       Unternehmen kooperiert unter anderem mit den Energiekonzernen RWE, BP und
       Shell. Der Stromerzeuger Steag prüft den Bau eines Elektrolyseurs in
       Duisburg.
       
       Trotzdem ist klar, dass der größte Teil des hierzulande benötigten grünen
       Wasserstoffs importiert werden muss. Deutschland hat einfach nicht genug
       Platz für die vielen Wind- und Solarparks. Deshalb strebt die
       Bundesregierung eine Zusammenarbeit unter anderem mit Australien,
       Neuseeland, Kanada, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien
       an.
       
       Am Sonntag ist Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) zu einem
       mehrtägigen Besuch in Namibia aufgebrochen, um mehr [3][grünen Wasserstoff
       für Deutschland] zu beschaffen. Begleitet wird er dabei von
       Industrievertretern. Eine Absichtserklärung für die Zusammenarbeit gibt es
       bereits, außerdem 30 Millionen Euro für Pilotprojekte.
       
       Wenn die nötigen Mengen an Wasserstoff bestellt sind, stellt sich die
       nächste Frage: Wie gelangt der Energieträger beispielsweise zu
       Thyssenkrupp? Ideal wären Pipelines. Aber die existierenden Gasleitungen
       etwa zu niederländischen Häfen müssen erst umgebaut werden. Für eine
       Verbindung zum Hamburger Hafen fehlt ebenfalls noch ein gutes Stück. Werden
       diese Trassen rechtzeitig fertig angesichts der Dauer der hiesigen
       Genehmigungsverfahren?
       
       Insgesamt geht es um nicht weniger als „eine neue industrielle Revolution“,
       sagt Bettina Hübschen. Der Zeitraum dafür beträgt fünf bis zehn Jahre, wenn
       ab 2026 allmählich grüner Wasserstoff in zunehmenden Mengen bei der
       Stahlproduktion eine Rolle spielen soll. Ist das nicht ein bisschen knapp
       für eine industrielle Revolution? Die erste dauerte ungefähr das ganze 19.
       Jahrhundert. Die digitale Revolution ist auch schon seit 50 Jahren
       unterwegs.
       
       ## Erstmal grau statt grün beim Wasserstoff
       
       Duisburg betreibt auch noch den größten Binnenhafen Europas. Und der hat
       dasselbe Problem wie Thyssenkrupp Steel, aber auch dieselbe Idee: grüner
       Wasserstoff.
       
       Alexander Garbar, weißes Hemd ohne Krawatte, Strickjacke, leitet die
       Unternehmensentwicklung des Hafens. Ein paar Flusskilometer südlich des
       Stahlwerks taucht hinter ihm am Ufer nun ein Teil der Lösung auf: die
       Baustelle des neuen Containerterminals.
       
       Oberhalb der senkrechten Uferbefestigung schütten Bagger weitläufige
       Abstellflächen auf. Ab 2024 werden sechs neue Kräne die Container von den
       Schiffen an Land heben. Der Clou: Perspektivisch will Garbars Firma die
       Kräne unter anderem mit Strom aus Brennstoffzellen speisen, die mit
       Wasserstoff laufen. Die Zellen fusionieren H2 und Sauerstoff zu Wasser,
       wobei Elektrizität entsteht.
       
       Das ist der grobe Plan. Er ist im Fluss. „Vor zwei, drei Jahren ging
       plötzlich die Wasserstoff-Diskussion los“, erinnert sich Grabar, „niemand
       wusste etwas Genaues.“ Auch jetzt sind noch wesentliche Punkte offen. Etwa
       die Frage: Wann und wie kommt grüner Wasserstoff in den Hafen? Per
       Tanklaster, per Pipeline? Keine Ahnung. Also wollen Grabar und seine Leute
       die Brennstoffzellen erstmal mit grauem Wasserstoff versorgen. Dieser ist
       aber nicht klimaneutral, weil man ihn zum Beispiel aus Erdgas gewinnt –
       nicht so schön.
       
       5 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Landtagswahl-in-Nordrhein-Westfalen/!5850411
   DIR [2] /Wasserstoff/!t5612532
   DIR [3] /Energie-Studium-in-Niger/!5855031
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hannes Koch
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Stahl
   DIR Wasserstoff
   DIR Duisburg
   DIR GNS
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Entwicklungszusammenarbeit
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Grünes Wachstum
   DIR Wasserstoff
   DIR Wasserstoff
   DIR Energiewende
   DIR Wasserstoff
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Ranking von CO2-Emittenten in Deutschland: Deutschlands dreckigste Fabriken
       
       Die 30 klimaschädlichsten Industrieanlagen sind alleine für 8 Prozent der
       deutschen CO2-Emissionen verantwortlich. Ganz vorne mit dabei: Thyssenkrupp
       aus Duisburg.
       
   DIR Umgang mit afrikanischen Staaten: Grün gefärbte Einflussnahme
       
       Es gibt die Annahme, dass Arme nur in die moderne Weltwirtschaft integriert
       werden müssten, dann werde alles gut. Als ob sie das nicht längst seien.
       
   DIR Wasserstoffbetriebene Züge in Hessen: Moderne Müllschlucker
       
       Die weltgrößte Flotte wasserstoffbetriebener Züge fährt bald im Taunus. Der
       Sprit kommt aus einem Industriepark und ist ein Abfallprodukt.
       
   DIR Investition in grünen Wasserstoff: Gut für den Nachbarkontinent
       
       Grüner Wasserstoff aus Namibia wird nicht helfen, hierzulande grünes
       Wachstum zu erreichen. Gebraucht wird er dennoch – für Afrikas
       Klimaneutralität.
       
   DIR Energiekooperation mit Namibia: Wasserstoff aus der Wüste
       
       Deutschland will in grünen Wasserstoff aus Namibia investieren. Minister
       Habeck ist dafür nach Windhoek gereist. Eine Chance für das afrikanische
       Land?
       
   DIR Grüner Wasserstoff aus Kanada: Großes Potenzial, aber viele Fragen
       
       Grüner Wasserstoff ist zentral für die Energiewende. Doch woher er kommen
       soll und ob der Transport von weither gestemmt werden kann, ist umstritten.
       
   DIR Nutzung von Wasserstoff in Deutschland: Der Champagner der Energiewende?
       
       Der „Wasserstoffatlas“ soll die Nutzung des Energieträgers vorantreiben.
       Ein Vorteil: die Unabhängigkeit von Produzentenländern.
       
   DIR Energie-Studium in Niger: Traum vom grünen Wasserstoff
       
       In Nigers Hauptstadt Niamey werden Studierende aus Westafrika zu
       Wasserstoff-Expert*innen ausgebildet. Das soll Deutschland grüne Energie
       sichern.