URI: 
       # taz.de -- Expertin zu Russland-Sanktionen: „Sie beenden den Krieg nicht“
       
       > Russland ist ein sehr schwieriges Sanktionsziel, sagt die Forscherin
       > Julia Grauvogel. Maßnahmen wie ein Preisdeckel für russisches Öl seien
       > dennoch nicht zu unterschätzen.
       
   IMG Bild: Alltag im Krieg: Ältere Frauen verkaufen Blumen in den Straßen von Moskau am 21. Oktober
       
       taz: Frau Grauvogel, seit Montag gilt in der [1][EU ein Preisdeckel] für
       den Import von russischem Erdöl. Was bedeutet das für Russland? 
       
       Julia Grauvogel: Ziel der Preisobergrenze und auch der Einfuhrbeschränkung
       ist, die russischen Handelsgewinne aus dem Ölgeschäft deutlich zu
       reduzieren und dadurch die Finanzierung des Kriegs gegen die Ukraine zu
       erschweren. Diese Maßnahmen können einen großen Einfluss haben, da die
       Einnahmen aus dem Öl- und Gasverkauf in der Vergangenheit bis zu 45 Prozent
       des Staatshaushaltes ausmachten.
       
       Ob dies gelingt, hängt auch von der Reaktion von Ländern wie Indien oder
       China ab, die momentan einen Großteil des russischen Erdöls kaufen. Zwar
       sollen westliche Reedereien und Banken den Export in Drittländer nur noch
       ermöglichen, wenn der Preisdeckel eingehalten wird. Doch es bleiben
       Umgehungsstrategien denkbar.
       
       Können Sanktionen den Angriffskrieg von Russland beenden? 
       
       Sanktionen wirken grundsätzlich auf drei Arten: Sie können ein Regime zu
       etwas zwingen, die Handlungsfähigkeit von einem Land einschränken oder eine
       Signalwirkung haben. Im Fall von Russland ist es nicht gelungen, den Krieg
       mit Sanktionen zu beenden und das wird auch in Zukunft nicht passieren.
       Doch der Spielraum Russlands wurde durch die Exportbeschränkungen von
       Technologien, die fürs Militär wichtig sind – etwa Mikrochips –
       eingeschränkt. Zudem haben die Sanktionen eine wichtige Signalwirkung auf
       potenzielle Nachahmer.
       
       Was macht ein Land verletzlich für Sanktionen? 
       
       Es gibt eine Reihe relativ gesicherter Faktoren für die
       [2][Erfolgswahrscheinlichkeit von Sanktionen]. Zuerst einmal die
       wirtschaftliche Asymmetrie. Dann sind Demokratien anfälliger als autoritäre
       Regime, weil dort die Bevölkerung sehr viel schneller nicht mehr bereit
       ist, wirtschaftlichen Abschwung mitzutragen, und dann über Wahlen die
       Herrschenden abstraft.
       
       Kleine Volkswirtschaften sind anfälliger als große und Sanktionen sind
       erfolgreicher, wenn sie durch große Koalitionen von Staaten oder sogar
       durch multilaterale Organisationen wie die Vereinten Nationen verhängt
       werden. Und es hilft auch, wenn die Forderungen klar und eingeschränkt
       sind: zum Beispiel die Untersuchung eines Massakers und nicht eine
       umfassende Demokratisierung.
       
       Alles nicht der Fall in Russland … 
       
       Genau. Russland ist ein extrem schwieriges Sanktionsziel.
       
       Und doch ist Russland nun offiziell in einer Rezession. Wegen der
       Sanktionen? 
       
       Insgesamt ist es die Folge der Gemengelage aus Sanktionen, Krieg und dem
       Rückzug westlicher Firmen. Spannend ist, dass die Rezession weniger stark
       ausgefallen ist, als Leute aufgrund der Sanktionen direkt nach dem Beginn
       des Angriffskriegs vorhergesagt haben. Die Erwartung an das Instrument
       waren überhöht, Sanktionen wirken immer nur mittel- bis langfristig.
       
       Welche Sanktionen waren denn schon wirksam? 
       
       Die Exportbeschränkungen von Technologien haben sich schon bemerkbar
       gemacht. So standen zum Beispiel in der russischen Automobilindustrie über
       längere Zeit die Bänder still, weil es keinen ausreichenden Nachschub
       diverser Bauteile gab. Und jetzt werden Autos mit fehlenden Teilen, etwa
       ohne Airbags, produziert. Auch zivile Flugzeuge fliegen mit kaputten
       Funktionen, da keine Ersatzteile importiert werden können.
       
       Und sonst? 
       
       Die EU und die USA haben auch ausländische Devisen eingefroren, immerhin
       fast 300 Milliarden US-Dollar. Doch da scheint Russland die Situation dank
       restriktiver Kapitalmarktkontrollen aktuell im Griff zu haben. Von den
       1.200 durch die EU sanktionierten Individuen haben sich ein paar schon
       vorsichtig vom Regime distanziert.
       
       Gibt es überhaupt noch [3][weitere Sanktionsmöglichkeiten]? 
       
       Ja. Es können noch weitere Banken aus dem internationalen
       Bankentransfersystem Swift ausgeschlossen werden. Der Preisdeckel für die
       Ölimporte könnte gesenkt oder ein vollständiges Ölembargo verhängt werden.
       Und es gibt immer noch Individuen, die zusätzlich auf die Sanktionslisten
       genommen werden können.
       
       Ist das mehr als Symbolpolitik? 
       
       Allein schon die Tatsache, dass innerhalb der EU immer noch sehr kontrovers
       diskutiert wird, zeigt, dass es noch Maßnahmen von erheblichem
       wirtschaftlichem Ausmaß gibt, die nicht nur Russland, sondern eben auch
       einzelne EU-Mitgliedstaaten treffen würden. Wenn das nur noch symbolische
       Verschärfungen wären, dann gäbe es diese Debatten nicht. Also da ist man
       noch nicht am Ende der Fahnenstange.
       
       Aber Sanktionen haben auch Nebenwirkungen. 
       
       Am schlimmsten sind ganz klar die humanitären Folgen. Diese haben sich
       beispielsweise bei den Sanktionen gegen die Taliban gezeigt: Die Vermögen
       der afghanischen Zentralbank wurden eingefroren und davon waren auch
       humanitäre Ausgaben betroffen. Und bis heute ist es für Hilfsorganisationen
       schwierig, gepanzerte Fahrzeuge zu importieren, da diese auch für
       militärische Zwecke verwendet werden könnten.
       
       Gibt es auch in Russland [4][humanitäre Nebenwirkungen]? 
       
       Ja. Doch es stellt sich die Frage, wo die Grenze zwischen Wirkung und
       Nebenwirkung liegt. Wenn bei Automobilherstellern die Bänder stillstehen,
       dann führt das zu mehr Arbeitslosigkeit. Ist das wirklich so gewollt oder
       ist das schon eine Nebenwirkung? Ich glaube, da befindet man sich sehr
       stark in der Grauzone, weil die Hoffnung besteht, dass, wenn das Land in
       eine Rezession rutscht, die Bevölkerung unzufrieden ist und es dadurch mehr
       Proteste gibt.
       
       Gibt es Beispiele für Proteste, die durch Sanktionen befeuert wurden? 
       
       In Simbabwe beispielsweise habe ich selbst Interviews geführt über die
       Sanktionen der EU und der USA, die diese Anfang der Nullerjahre aufgrund
       gravierender Menschenrechtsverletzungen bei den Wahlen verhängt hatten. Die
       Opposition konnte recht erfolgreich argumentieren: „Mit uns an der Macht
       und mit einer demokratischen Regierung könnten wir wieder stärker in die
       internationale Gemeinschaft integriert werden, dann könnten wir auch unsere
       Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen wiederbeleben.“
       
       Und in Russland? 
       
       Dort ist die Repression so stark, dass es kaum nennenswerte Proteste gibt,
       selbst wenn die wirtschaftliche Situation sich verschlechtert. Im
       Gegenteil: Das Regime appelliert erfolgreich an die Solidarität der
       Bevölkerung und stellt die Sanktionen als Angriff von außen dar. Als
       Beweis, dass der Westen schon immer gegen Russland war.
       
       Wir spüren auch hier Nebenwirkungen der Sanktionen: Energie wird teurer,
       die Inflation steigt. Sind die Kosten der Sanktionen noch tragbar? 
       
       Die Sanktionen haben Kosten für die EU, ganz klar. Die sind jedoch nicht
       höher als umgekehrt. Als die ersten Sanktionen der EU verhängt wurden,
       standen die Leute in Russland zum Teil vor Bankautomaten, wo sie kein Geld
       mehr abheben konnten. Das ist ja weit entfernt von unserer Situation, die
       wir hier haben. Das Schwierige an der Situation ist, dass die Kosten hier
       mittelfristig steigen werden und man gleichzeitig im Februar und März
       unrealistische Erwartungen an die Sanktionen geschürt hat, diese könnten
       den Krieg beenden. Dadurch kann die Bereitschaft sinken, die Sanktionen
       mitzutragen.
       
       Werden eigentlich immer mehr Sanktionen verhängt? 
       
       In den Neunzigern wurden sehr viele, sehr umfassende Sanktionen verhängt –
       vorher war das wegen der Blockade im Sicherheitsrat nicht möglich. Eine
       Folge dieser Sanktionseuphorie waren sehr umfassende Sanktionsregime mit
       zum Teil gravierenden humanitären Folgen. Nachdem 1990 der Irak Kuwait
       überfallen hatte, wurde ein komplettes Wirtschaftsembargo gegen das Land
       verhängt, welches massive medizinische Versorgungsprobleme nach sich zog.
       
       Zusammen mit dem Krieg führten die Sanktionen einem starken Anstieg der
       Säuglings- und Kindersterblichkeit. Nach diesen Erfahrungen setzte eine
       Sanktionsmüdigkeit ein und es gab eine Fokussierung auf sogenannte
       „intelligente“ Sanktionen, also Instrumente, die sich gezielt gegen
       Individuen, einzelne Sektoren oder einzelne Rohstoffe richten. In den
       letzten Jahren stiegen die Fälle wieder an und es werden zunehmend wieder
       umfassendere Maßnahmen verhängt.
       
       Zu viele? 
       
       Eigentlich nicht. Problematisch finde ich abgesehen von den überhöhten
       Erwartungen an das Instrument eine oft nicht ausreichende Ausgestaltung. Es
       werden zum Teil sehr schnell Sanktionen verhängt, ohne Exitstrategie. Aus
       der Forschung wissen wir jedoch, dass Sanktionen erfolgreicher sind, wenn
       ein mögliches Ende schon von Anfang an mitgedacht wird. Auch mangelt es oft
       an einem ausreichenden Plan zur Durchsetzung. In Deutschland etwa wurde
       deshalb jüngst das Sanktionsdurchsetzungsgesetz beschlossen.
       
       Wie ist das im Fall von Russland? 
       
       Schwierig, da die Forderungen sehr umfassend sind. Schaut man auf die
       Entwicklung seit der Annexion der Krim 2014, fällt auf, dass sich die Ziele
       der Sanktionen im Verlauf der Zeit verändert haben. Anfangs stand die
       Rückgabe der Krim im Vordergrund, später wurden die Sanktionen jedoch
       zunehmend auch mit der Umsetzung der Minsker Abkommen verknüpft. Das hat
       damit zu tun, dass Sanktionen verschiedene Funktionen erfüllen.
       
       Welche? 
       
       Einerseits sind sie ein wichtiges Signal, um völkerrechtliche Normen zu
       bekräftigen. Gleichzeitig sind Sanktionen auch ein Faustpfand in
       Verhandlungen. Und je stärker man in die Phase von Verhandlungen kommt,
       desto klarer wird, dass ein zunächst formuliertes Ziel vielleicht nicht
       vollumfänglich erreicht werden kann.
       
       Viele Unternehmen ziehen sich ohne Zwang aus sanktionierten Ländern zurück.
       Diese „freiwilligen Sanktionen“ erfüllen die Funktion als Faustpfand nicht. 
       
       Im Fall von Russland war es drastisch. Mittlerweile sind mehr als 1000
       Unternehmen freiwillig gegangen. Ich finde das aus normativen Gründen
       nachvollziehbar. Meist hat es jedoch beschränkte wirtschaftliche
       Auswirkungen, weil es sich dabei um Konsumgüter handelt. Es ist viel
       schwieriger, einen Halbleiterchip zu ersetzen, als aus McDonald's das
       „russische McDonald's“ zu machen. Es hat trotzdem eine Wirkung, weil es
       zeigt, wie international isoliert Russland ist.
       
       Aktuell werden von vielen Seiten mehr Sanktionen gegen das Regime in Iran
       gefordert. Können Sanktionen gegen Iran wirksam sein? 
       
       In Iran haben Sanktionen in der Vergangenheit durchaus dazu beigetragen,
       innenpolitischen Druck aufzubauen. Die Sanktionen in Bezug auf das
       Atomprogramm haben bei der Wiederwahl Rohanis im Jahr 2017 eine große Rolle
       gespielt. Augenscheinlich ist es ein Land, wo mit Sanktionen Einfluss auf
       innenpolitische Auseinandersetzungen ausgeübt werden kann.
       
       Also sollte die EU jetzt schnell mehr Sanktionen beschließen? 
       
       Die Erfahrungen zeigen, dass es nicht aussichtslos ist. Zudem: Sanktionen
       werden immer häufiger verhängt. Mittlerweile sind sie dermaßen etabliert
       als außenpolitisches Instrument, dass es in bestimmten Situationen –
       ebendieser massiven Repression jetzt in Iran oder dem Angriff auf die
       Ukraine – einer Legitimation des Verhaltens gleichkäme, keine Sanktionen zu
       verhängen.
       
       5 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Energiekrise-und-Oelembargo/!5900012
   DIR [2] /Folgen-der-Sanktionen-fuer-Russland/!5861348
   DIR [3] /Neue-Sanktionen-gegen-Russland/!5883297
   DIR [4] /Sanktionen-des-Westens/!5888293
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Clara Vuillemin
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Energiekrise 
   DIR Russland
   DIR Sanktionen
   DIR GNS
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Westen
   DIR Russland
   DIR EU-Sanktionen
   DIR Russland
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Kolumne Krieg und Frieden
   DIR Energiekrise 
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Ökonom über Wirksamkeit von Sanktionen: „Der Westen musste reagieren“
       
       Mit Sanktionen zu politischen Veränderungen? Wirtschaftswissenschaftler
       Felbermayr hält das für naiv. Doch in Hinblick auf China seien sie wichtig.
       
   DIR Buch über westliche Außenpolitik: Nach der Hybris
       
       Der Politikwissenschaftler und Terrorexperte Peter Neumann inspiziert
       umsichtig die außenpolitischen Desaster des Westens von 1990 bis heute.
       
   DIR Bauteile für Russland: Verdacht auf Sanktionsverstoß
       
       Der Westen will Russlands Kriegswirtschaft isolieren. Offenbar lieferte
       eine deutsche Firma trotz Verbots Elektronikbauteile nach Russland.
       
   DIR Neue EU-Sanktionen gegen Russland: Von der Leyens Resterampe
       
       Das neunte Sanktionspaket der EU enttäuscht. Sinnvoller wäre eine kritische
       Bestandsaufnahme der bisherigen Maßnahmen gewesen.
       
   DIR US-Basketballstar gegen Waffenhändler: Griner in die Freiheit getauscht
       
       Seit Monaten liefen die Verhandlungen für einen neuen Gefangenenaustausch
       zwischen Russland und den USA. Nun melden beide Seiten einen Erfolg.
       
   DIR Russische Mütter in Kriegszeiten: Mamotschka kann nicht helfen
       
       Russlands Gesellschaft macht aus Frauen passive Erfüllerinnen des
       Staatswillens. Jetzt, wo ihre Söhne im Krieg sterben, proben manche Mütter
       den Aufstand – aber ohne politische Forderungen.
       
   DIR Angriff auf Militärflughäfen: Die Ukraine schlägt zurück
       
       In Russland hat es mehrere Explosionen durch Drohnenangriffe auf
       Bomber-Militärbasen gegeben. Offenbar steckt die Ukraine dahinter.
       
   DIR +++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Selenski besucht Front in Ostukraine
       
       Zum „Tag der Streitkräfte“ besucht der ukrainische Präsident Truppen im
       Donbass. Die EU-Finanzminister können sich nicht auf weitere Hilfen
       einigen.
       
   DIR Moskau und der Krieg in der Ukraine: Furchtbare neue Welt
       
       Russlands Sommer der Verdrängung ist einem Herbst der Sorgen gewichen. Der
       Krieg ist in jedes Wohnzimmer eingezogen. Die meisten Menschen nehmen es
       hin.
       
   DIR Sanktionen des Westens: In Russland werden die Waren knapp
       
       Viele kleine und mittlere Unternehmen in Russland geraten in existenzielle
       Nöte. Staatliche Unterstützungsmaßnahmen greifen nur teilweise.
       
   DIR Neue EU-Sanktionen gegen Russland: Der Konsens bröckelt
       
       Vom Ziel, Russland zu ruinieren, ist nichts übrig geblieben. Stattdessen
       wächst die Sorge, dass die Sanktionen die Wirtschaft in der EU schädigen.