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       # taz.de -- Zeitsparen und anderer Stress: Das Zeitgeiz-Paradox
       
       > Was wir am dringendsten brauchen, ist Zeit. Aber möglichst effektives
       > Zeitsparen ist auch keine Lösung.
       
   IMG Bild: Wenn die Kinder die Zeit bestimmen: Lichtinstallation im Londoner Hampton Court Palace im Jahr 2021
       
       Das Jahr geht dem Ende zu. Das finde ich nicht schlimm. Meine einzige
       Weihnachtsfeier-Einladung wurde abgesagt. Finde ich auch nicht schlimm – so
       habe ich ein bisschen mehr Zeit. Vielleicht sollten wir uns alle zu
       Weihnachten mit der Absage von Terminen beschenken. Zeit brauchen wir doch
       am dringendsten. Meine Tochter hört jetzt aus Zeitspargründen die
       Sprachnachrichten ihrer Freundinnen (die ohnehin beeindruckend schnell
       sprechen) mit doppelter Geschwindigkeit.
       
       Ich finde, der Vorteil einer SMS liegt – wie der Name schon sagt – in ihrer
       Kürze. Die elendigen Sprachnachrichten versauen die Übersichtlichkeit in
       jeder Whatsapp-Gruppe. Nur ihre Verfasser sparen Zeit, weil sie ihre
       Korrespondenz ganz toll effizient nebenher erledigen. Ich wage aber die
       Behauptung, dass [1][Sprachnachrichten-Geschwafel] nicht nur die Empfänger
       mehr Zeit kostet, so oft wie darin die Worte „Shit, hier hätte ich abbiegen
       müssen“ vorkommen.
       
       Das Gesülze auch noch in doppelter Geschwindigkeit abzuhören übersteigt
       meine Schmerzgrenze, das ist dann doch zu viel Zeitgeiz. Da höre ich
       Sprachnachrichten lieber gar nicht erst ab. Ich habe übrigens auch mal
       versucht welche aufzunehmen. Aber ich kann das nicht. Ich habe irgendwie zu
       dicke Finger fürs Smartphone und rutsche ständig vom Knopf, der ja gar kein
       Knopf ist, nicht mal eine Taste, weswegen mein Gelaber am Ende nicht mal
       aufgezeichnet wurde.
       
       Woher nehmen die Leute bloß die ganze [2][Zeit] für die vielen Whatsapps,
       Posts, Tweets, Retweets, Snaps, Stories und Telegramme? Mir fehlt die.
       Dabei haben wir alle die genau gleichen 24 Stunden täglich zur Verfügung.
       Ganz gerecht. Nicht gerecht ist, dass einige in diesen 24 Stunden
       Staubsaugen und Töpfe auswaschen und andere nicht. Aber das ist ein anderes
       Thema.
       
       ## Willi und die vermurmelte Zeit
       
       Einen bedeutenden Teil meiner Zeit habe ich in den letzten Jahren mit
       unserem Sohn Willi an der Murmelbahn verbracht. Es war oft eine
       Herausforderung, etwas scheinbar so Sinnloses zu tun, wie Glaskugeln eine
       schräge Ebene hinabrollen zu lassen, während sich um mich herum Dinge
       türmten, die ich hätte tun müssen oder tun wollen. Zeitsparend nebenbei
       andere sinnlose Dinge zu tun wie im Zimmer staubwischen oder
       Sprachnachrichten abhören, hat Willi nie erlaubt. Das hat oft genervt, aber
       oft habe ich mich dabei auch sehr erleuchtet gefühlt – sogar glücklich.
       
       Recht desillusionierend ist dann aber immer der Moment gewesen, wenn beide
       Kinder morgens aus dem Haus oder abends im Bett waren. Dann ist
       unübersehbar, dass ich keineswegs eine höhere Erkenntnisstufe erreicht
       habe, denn ich versuche durch doppeltes Arbeitstempo die vermurmelte Zeit
       wieder reinzuholen.
       
       Ich gerate in einen Zustand so übersteigerter Pseudo-Effektivität, dass es
       von außen betrachtet den Schwachsinns-Grad einer in doppelter
       Geschwindigkeit abgespielten Sprachnachricht noch deutlich übertrifft.
       Während ich maximal hektisch aufräume und putze, Termine plane und
       Nachrichten höre, kochen nebenher die Nudeln über und ich verschütte meinen
       Kaffee auf die frische Wäsche, die ich einräume. Ein völlig irrer Zustand,
       den mein Mann – nicht ganz zufällig – als einen gigantischen, an ihn
       gerichteten Vorwurf interpretiert.
       
       Jetzt wo Willi ausgezogen ist, müsste ich zeitlich gesehen die gesamte
       Hausarbeit in völliger Ruhe erledigen und nebenher noch [3][Podcasts] oder
       Sprachnachrichten anhören können. Tue ich aber nicht. Den Großteil meiner
       freigewordenen Zeit verbringe ich – wenn unsere Tochter mich nicht braucht
       – mit anderen wundervoll sinnlosen Beschäftigungen und erledige die
       Hausarbeit danach weiterhin völlig Zen-befreit. Gerade flechte ich Körbe.
       Körbe, die kein Mensch benötigt. Dabei müsste ich unbedingt die
       Steuererklärung machen.
       
       Zum Glück ist Willi in den Weihnachtsferien zuhause, dann stellt sich die
       Frage nach der Steuer nicht, dann kann ich einfach murmeln.
       
       25 Dec 2022
       
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