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       # taz.de -- Christen im Westjordanland: Reise nach Bethlehem
       
       > Für Christen in Palästina sind es oft nur wenige Kilometer bis zur
       > Geburtskirche in Bethlehem. Doch Genehmigungen und Checkpoints erschweren
       > den Weg.
       
   IMG Bild: Der Weihnachtsbaum wird eingeweiht: Ramallah, Westjordanland, am 5. Dezember 2022
       
       Ramallah taz | Als erstes kommen die älteren Menschen. Viele tragen Kreuze
       um den Hals, manche goldfarben und dick, andere silbern, besetzt mit
       Steinen. Kurz vor Beginn des Gottesdienstes rücken schließlich die Familien
       an. Ein Mädchen kaut noch an seinem Frühstück, während es auf die
       Kirchenbank klettert. Der Chor singt, die Gemeinde erhebt sich, der
       Priester beginnt: „Bismi Allah …“ – im Namen Gottes.
       
       Während in Deutschland selbst in der Adventszeit viele Kirchen sonntags
       leer bleiben, ist in der katholischen Kirche der Heiligen Familie in
       Ramallah im palästinensischen Westjordanland an diesem vierten Advent jeder
       Platz besetzt. Wer zu spät kommt, muss stehen.
       
       Ihr Glaube ist vielen der knapp 50.000 christlichen Palästinenser und
       Palästinenserinnen wichtig. Doch an Feiertagen wird deutlich, wie schwierig
       es sein kann, diesen auch zu leben – mit der ganzen Familie zu feiern oder
       den Gottesdienst in der Geburtskirche in Bethlehem zu besuchen. Schuld
       daran ist für viele der israelische Staat.
       
       Georgette, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung sehen möchte, lebt in
       Ramallah. Jeden Sonntag besucht sie den Gottesdienst. Sie freut sich auf
       Weihnachten, doch nach Bethlehem zu fahren – Sehnsuchtsort vieler Christen
       zu Weihnachten –, komme für sie nicht in Frage: „Bei langen Autofahrten
       wird mir schlecht.“
       
       Dabei liegen nur rund 25 Kilometer Luftlinie zwischen Ramallah und
       Bethlehem. Doch für die Fahrt brauchen Palästinenser wie Georgette
       mindestens zwei Stunden, denn die kürzeste Strecke führt durch Jerusalem
       und damit durch israelisches Gebiet. Palästinenser, die einen
       Aufenthaltstitel für [1][das von Israel annektierte Ostjerusalem] besitzen
       und ohne Sondergenehmigung zwischen Israel und dem Westjordanland hin- und
       herreisen dürfen, schaffen die Strecke bei ruhigem Verkehr in gut einer
       Stunde.
       
       Um nach Jerusalem zu fahren, müssen sie einen israelischen Checkpoint
       passieren, der kurz vor Weihnachten mit roten und goldenen Lichtern
       geschmückt ist. Obwohl die Kontrollen dort oft mit einem Blick auf den
       Aufenthaltstitel und einem ins Gepäck erledigt sind, kostet das Zeit. Wer
       dagegen wie Georgette keine Genehmigung hat, hat es schwerer und muss
       Jerusalem weiträumig umfahren.
       
       Ein anderer Gottesdienstbesucher erklärt: „Jerusalem existiert für mich
       nicht mehr.“ Um dort Freunde, Verwandte oder die Grabeskirche zu besuchen,
       bräuchte er eine Genehmigung, die er bei der israelischen
       Ziviladministration für [2][das Westjordanland] beantragen müsste. Er habe
       zwar auch einen US-Pass und könnte Jerusalem einfach so als Tourist
       besuchen – doch das wolle er nicht, sagt er. Aus Prinzip.
       
       Viele Palästinenser haben eine weitere Staatsbürgerschaft. Die Diaspora ist
       groß. Das palästinensische Zentralbüro für Statistik gibt an, dass 2022
       etwa sieben Millionen Palästinenser außerhalb der palästinensischen Gebiete
       sowie des Staates Israel lebten. Weitere rund sieben Millionen leben im
       Westjordanland, Gaza und Israel.
       
       Auch Georgettes Schwestern sind in die USA ausgewandert. Für sie selbst kam
       das nie in Frage: „Palästina ist meine Heimat.“ Zuletzt habe sie die eine
       Schwester vor mehr als sechs Jahren gesehen, die andere noch länger nicht
       mehr. Auch eines ihrer Kinder lebt mittlerweile im Ausland, in
       Großbritannien. Für ein gemeinsames Weihnachten, sagt sie, seien die Flüge
       zu teuer.
       
       ## Zerrissene Familien
       
       Auch Fahdi, der seinen Nachnamen ebenfalls nicht veröffentlicht sehen
       möchte, kann nicht einfach spontan mit seiner Familie feiern. Er ist
       griechisch-orthodoxer Christ, stammt aus Gaza, lebt aber im Westjordanland.
       Möchte ihn seine Familie aus Gaza besuchen, muss sie eine Genehmigung beim
       israelischen Staat beantragen.
       
       Für viele Christen aus Gaza – noch etwa 1.000 leben in dem Küstenstreifen –
       sind die Reisegenehmigungen besonders an Weihnachten wichtig. Denn während
       Palästinenser aus dem Westjordanland nach Bethlehem zur Geburtskirche
       fahren können, ohne eine Grenze überqueren zu müssen, haben die Menschen
       aus Gaza keine andere Wahl.
       
       Sie müssen sogar zwei Grenzen passieren: Von Gaza nach Israel und von
       Israel ins Westjordanland. Wer eine Genehmigung bekommt, obliegt den
       israelischen Behörden. Die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa
       berichtet, dass für Weihnachten 2022 von etwa 800 Beantragenden aus Gaza
       rund 200 keine Einreisegenehmigung erhalten hätten.
       
       Auch an Ostern, wenn statt der Geburtskirche die Grabeskirche in Jerusalem
       der Sehnsuchtsort vieler Christen ist, und somit die Palästinenser im
       Westjordanland eine Erlaubnis brauchen, um nach Jerusalem einzureisen,
       sorgt die Vergabe der Genehmigungen für Spannungen. Während Israel zum Ende
       des Ramadan normalerweise die Einreiseregeln lockert und Frauen, Kinder und
       einige Männer aus dem Westjordanland so auch ohne Genehmigung die
       Al-Aksa-Moschee in Jerusalem besuchen dürfen, gibt es für Christen keine
       solchen Lockerungen.
       
       Georgette wird Weihnachten in Ramallah verbringen: Sie möchte die Kirche
       der Heiligen Familie besuchen und mit denjenigen Familienmitgliedern, die
       noch im Westjordanland leben, gemeinsam feiern. Trotz aller
       Schwierigkeiten, sagt sie, gebe ihr die Weihnachtszeit Hoffnung.
       
       21 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Lisa Schneider
       
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