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       # taz.de -- Balzac-Verfilmung „Verlorene Illusionen“: Als Fake News noch Enten waren
       
       > Regisseur Xavier Giannoli hat Balzacs Roman „Verlorene Illusionen“
       > verfilmt. Sein Porträt Pariser Journalisten vor 200 Jahren ist aktuell.
       
   IMG Bild: Louise de Bargeton (Cécile de France) und Lucien Chardon (Benjamin Voisin) in „Verlorene Illusionen“
       
       Am Ende steht ein Satz über das Scheitern, mahnend und aufmunternd
       zugleich. „Ich denke an diejenigen, die nach der Enttäuschung etwas in sich
       selbst finden müssen.“ Er stammt von Honoré de Balzac, und zweieinhalb
       Stunden lang hat der [1][französische Regisseur Xavier Giannoli] in der
       Adaption von Balzacs „Verlorenen Illusionen“ bis dahin einen jungen Mann
       begleitet, der mit großen Ambitionen aus der Enge der Provinz in die
       Großstadt geflohen ist und dort mit seinem Talent ein aufregendes neues
       Leben beginnen wollte.
       
       Dass die Sache trotz seiner Höhenflüge nicht gut ausgeht, ist kein Spoiler,
       vor dem gewarnt werden müsste, das tragen der Film und der Roman, auf dem
       er basiert, bereits im Titel. Und von geplatzten Träumen lässt sich am
       besten aus der Rückblende und mit einer gewissen Distanz erzählen.
       
       „Verlorene Illusionen“ stammt, wie das Zitat, aus der Feder Honoré de
       Balzacs, dem großen Romancier des 19. Jahrhunderts. Das zwischen 1836 und
       1843 entstandene Werk gehört zu den berühmtesten des französischen
       Realisten, ist Teil seines Mammutprojekts der „Menschlichen Komödie“, und
       bemerkenswerterweise noch nie für die Leinwand adaptiert worden, bisher
       lediglich als Fernsehfilm und für die Bühne. Dabei erweist sich der Stoff
       als erstaunlich exemplarisch für unsere Gegenwart, auch wenn die Handlung
       [2][vor 200 Jahren zur Zeit der Restauration um 1820] spielt.
       
       Protagonist dieser Geschichte vom Aufstieg und Fall eines begabten, wenn
       auch naiven Ehrgeizlings ist der 20-jährige Lucien Chardon (Benjamin
       Voisin), der sich von seinem Heimatstädtchen Angoulême nach Paris aufmacht,
       um dort als Schriftsteller zu reüssieren. Die Abreise ist nicht ganz
       freiwillig, er hatte dort ein intensives Techtelmechtel mit einer schönen
       älteren Frau, Louise de Bargeton (Cécile de France), das für einen Skandal
       sorgte, weil sie aus besseren Kreisen stammt und zudem verheiratet war.
       
       Er selbst verdient seinen kargen Unterhalt in der bescheidenen
       Druckereiwerkstatt seines Schwagers und schreibt nebenbei glühende
       Gedichte. Einen schmalen Band mit Poesie über Gänseblümchen bringt er im
       Selbstverlag heraus, was außer bei seiner Angebeteten auf wenig Gegenliebe
       stößt.
       
       ## Erste Blüte der bürgerlichen Presse
       
       Mit dieser Vorgeschichte, die in dem als Trilogie angelegten Roman den
       ersten Teil einnimmt, hält sich Giannoli allerdings nicht lange auf. Nach
       der Flucht in die Hauptstadt stürzt er seinen Emporkömmling schnell hinein
       in den Tumult der Restaurationsjahre, in der Goldgräberstimmung herrscht
       und die bürgerliche Presse ihre erste Blüte erlebt. Und mit ihr so manch
       anderes Blatt, das provokant gegen die Monarchie hetzt. Während seine
       Geliebte den Kontakt abbrechen muss, um den eigenen sozialen Stand nicht zu
       gefährden, denn die Klassengesellschaft ist noch klar aufgeteilt.
       
       Dem Burschen fehlt nicht nur der richtige Name, auch wenn er sich als
       Künstlernamen einen Adelstitel andichtet, sondern vor allem fehlen ihm die
       richtigen Manieren. Der erste Opernbesuch wird zum Fiasko. Paris ist teuer
       und das Geld schnell knapp, Lucien heuert erst mal als Kellner in einer
       Spelunke an. Dort trifft er auf einen Berufsjournalisten, Etienne Lousteau
       (Vincent Lacoste), der ihn erst auslacht, aber dann doch für pfiffig genug
       hält, ihm eine Chance zu geben.
       
       Luciens hehres Bild der Zunft, Journalisten erklärten die Welt und brächten
       den Lesern Kunst nahe, lässt der zynische Boulevardzampano platzen: „Meine
       Aufgabe ist es, die Aktionäre der Zeitung reich zu machen. Und dabei
       nebenbei so viel wie möglich einzustreichen.“
       
       Das Prinzip ist so simpel wie perfide. Lousteau lässt sich von einem
       Theaterdirektor für eine gute Kritik bezahlen, von der Konkurrenz für einen
       Verriss, beides schreibt er unter verschiedenen Namen in mehreren
       Zeitungen. So entsteht eine Kontroverse, an der alle verdienen, weil sie
       verkauft: Zeitungen ebenso wie Theaterkarten und Bücher oder was sonst
       interessant gemacht wird. Wozu also vom Künstlerdasein träumen, wenn sich
       so leichtes Geld verdienen lässt? Zumal die Verlage nach Zeile zahlen, noch
       am selben Abend.
       
       ## Verreißen lässt sich alles
       
       Einer der mächtigsten Verleger, denen Lucien bald begegnet, ist Dauriat
       (Gérard Depardieu), ein imposant-lächerlicher Koloss, der weder lesen noch
       schreiben kann. Wie diese Figur, wie die Dialoge und auch der allwissende
       Offkommentar, ist vieles sarkastisch, bisweilen zynisch und überzogen, aber
       auch pointiert und immer wieder sehr komisch.
       
       Verreißen lässt sich alles, erklärt Lousteau an einer Stelle, das sei nur
       eine Frage der Perspektive. „Berührt dich das Buch, nennst du es
       sentimental. Ein klassischer Stil: zu akademisch.“ Und reiht gleich noch
       ein halbes Dutzend vernichtende Floskeln aneinander. Was witzig ist, nennt
       man oberflächlich. Ist es intelligent: prätentiös.
       
       Auch wenn die Lohnschreiberei eigentlich unter seiner Würde ist, versteht
       Lucien das Geschäft schnell, schreibt Pamphlete und agiert als
       Zeitungskritiker immer skrupelloser, bereichert sich noch etwas gewiefter
       als die anderen und steigt auf in einer Gesellschaft, in der alles käuflich
       scheint. Um die Medien- und Sozialkritik herum erzählen Balzac/Giannoli
       noch eine bisweilen etwas melodramatische Dreiecksromanze zwischen dem
       Aufsteiger, einer schwindsüchtigen Nachwuchsschauspielerin und Ex-Dirne,
       Coralie (Salomé Dewaels), und der nie erloschenen Liebe zur adligen Louise.
       
       ## Auftritte durch bezahlte Buhrufer vernichten
       
       Interessant wird es immer dann, wenn sich Privates und Berufliches
       vermischen, wenn etwa Lucien seine vermeintliche Machtposition nutzt,
       Coralie für eine Hauptrolle durchzusetzen. Sein Einfluss und Status
       erweisen sich dabei als fragiler, als er wahrhaben wollte, und die Marquise
       d’Espard (Jeanne Balibar) weiß ihre Privilegien zu nutzen, den Auftritt
       durch bezahlte Buhrufer zu vernichten. Und auch Luciens Fall ist besiegelt.
       
       Giannoli hält sich recht getreu an die Vorlage, erlaubt sich aber kleinere
       Freiheiten. Der umtriebige Singali (Jean-François Stévenin) etwa, der je
       nach Bedarf Claqueure und Tomatenwerfer im Saal positioniert, ist eine
       Erfindung für den Film. Und die Figur von Luciens ambivalentem Rivalen
       Nathan (gespielt vom Frankokanadier Xavier Dolan, sonst eher selbst als
       Autorenfilmer hinter der Kamera), setzt er aus drei Charakteren zusammen
       und macht ihn zur trocken-ironischen Erzählstimme des Films.
       
       Damit unterstreicht Giannoli den literarischen Ursprung des Stoffs, seine
       Adaption ist keineswegs bloße Illustration der Romanvorlage, so
       hintersinnig böse sind die Kommentare und Bonmots.
       
       ## In Frankreich einen Nerv getroffen
       
       Das Historiendrama inszeniert er geradezu klassisch, ohne zwanghafte
       Modernisierungen oder gar ahistorische Details. Das ist auch gar nicht
       notwendig, so deutlich spiegelt der Stoff in vielem die Mechanismen weiter
       Teile der medialen Welt von heute wider, in der sich seitdem erstaunlich
       wenig verändert hat. Fake News etwa, die hier noch klassisch „Enten“
       heißen, auch dafür gibt es eine Erklärung.
       
       In Frankreich traf der 50-jährige Regisseur („Chanson d’Amour“) mit seinem
       achten Spielfilm einen Nerv. Eine Million Zuschauer im Kino und im Februar
       wurde er mit sieben Césars ausgezeichnet, dem wichtigsten Filmpreis des
       Landes, darunter als bester Film.
       
       „Für Lucien begann alles mit Tinte, Papier und der Liebe für das Schöne“,
       leitet der Erzähler süffisant den Reigen ein. Am Ende ist davon nicht mehr
       viel übrig. Und Balzacs Schlusswort lässt sich, nach allen verlorenen
       Illusionen, auch als Plädoyer lesen, sich nicht unterkriegen zu lassen.
       Denn ist die Hoffnung erst dahin, kann man anfangen zu leben.
       
       22 Dec 2022
       
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