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       # taz.de -- Film-Highlight des Jahres: Alles, überall, auf einmal
       
       > „Everything Everywhere All At Once“ thematisiert intergenerationales
       > Trauma. Es geht um Blockaden des gemeinsamen Sprechens.
       
   IMG Bild: Michelle Yeoh (Mitte) in „Everything Everywhere All At Once“
       
       Mein absolutes Filmhighlight dieses Jahr war [1][„Everything Everywhere All
       At Once“ mit Michelle Yeoh] in der Hauptrolle. Um genau zu sein: in
       unendlich vielen Hauptrollen. In einem Science-Fiction-Film über das
       Multiversum ist das so angelegt: Überall existieren in Paralleluniversen
       gleichzeitig tausende Versionen einer Person an tausenden Orten.
       
       Sie laufen sich nur üblicherweise nicht über den Weg. Für eine
       Schauspielerin wie Yeoh ist das ein Traum, weil sie eine ganze Bandbreite
       an Figuren in einem Film verkörpern kann. Zunächst spielt sie Evelyn Wang
       als amerikanisch-chinesische Besitzerin eines Waschsalons. Sie wird von
       einer Steuerprüferin der IRS verfolgt und muss dann schnell mal eben das
       Multiversum vor der kompletten Zerstörung retten.
       
       EEAAO ist der queerste Film, den ich seit Langem gesehen habe. Nicht nur,
       weil der Film auch auf der formellen Ebene lineare Narrative durchkreuzt
       und als Migrationserzählung des Queer Cinemas darauf verzichtet, die Zweite
       Generation in ein Schema des Bemitleidens der eigenen Eltern zu drücken.
       Und nicht nur, weil Stephanie Hsu die Rolle von Evelyns lesbischer Tochter
       Joy mit einer großartigen Mischung aus Ungeduld und Zuneigung gegenüber
       ihrer Mutter spielt. Sondern auch, weil Michelle Yeoh und Jamie Lee Curtis
       immer Chemie haben, egal ob die IRS-Lady die ganze finanzielle Existenz von
       Evelyn in der Hand hält oder die beiden sich in einem Universum am anderen
       Ende der Galaxis als Liebespaar mit Hot-Dog-Fingern umtanzen – also
       buchstäblich mit Händen, die lange, wedelnde Wiener Würstchen als Finger
       haben.
       
       ## Eine Mutter-Tochter-Geschichte
       
       Frei übersetzt heißt der Film „Alles, überall, alles auf einmal“. Diese
       überreizende Flut der Gleichzeitigkeit blättert sich mit der Zeit in immer
       komplexere Bedeutungsebenen auf. Zunächst vereint das Drehbuch mit Sci-Fi,
       Martial Arts, Komödie und Drama eine ganze Reihe von Genres in einem
       einzigen Film. Das klingt gaga, im Erleben fügt sich das alles jedoch so
       logisch ineinander, dass ich die erste Hälfte des Films Tränen gelacht habe
       und in der zweiten Hälfte zu Tränen gerührt war. Denn mit der Idee, alle
       möglichen Szenarien im selben Moment wahrzunehmen und die Grenzen zwischen
       den Dimensionen einzureißen, wird hier weit mehr verhandelt. Der
       neoliberale Fluch zum Beispiel, der im Wort „eigentlich“ steckt. Das ewige
       Bereuen all der Wege also, die man hätte gehen können, aber nicht gegangen
       ist.
       
       Am Ende erzählt EEAAO eine Mutter-Tochter-Geschichte, die
       [2][intergenerationales Trauma] auf eine Weise zum Thema macht, die ich so
       im Kino noch nicht gesehen habe. Die Blockaden des gemeinsamen Sprechens,
       die uns gesellschaftlich auferlegt werden, sind hier in allen Universen am
       Werk. Und die Tragik, dass wir nicht gelernt haben, wie wir solchen
       Blockaden begegnen können. Ich habe mich oft gefragt, wie es wäre, wenn wir
       das von klein auf lernen – überall und alles auf einmal, egal wo. Eine
       Filmstunde mit EEAAO wäre ein Anfang.
       
       21 Dec 2022
       
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       ## AUTOREN
       
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