URI: 
       # taz.de -- Aus mit 2022: Ningeltrienen und Pilleneinwerfer
       
       > Das scheidende Jahr war wahrlich kein leichtes. Viele schafften es
       > tapfer, andere meckernd und noch andere mit dem ein oder anderen
       > Glücklichmacher.
       
   IMG Bild: An der Spitze stehen ausgerechnet die Länder, die bei Glücksrankings immer ganz vorn mitlächeln
       
       So, jetzt wo das meiste geschafft ist, kann man auch mal zurück blicken und
       sagen: Es war nicht alles schlecht! Okay, das Jahr 2022 war nicht ganz frei
       von Herausforderungen: Corona, Ukrainekrieg, Inflation und jetzt am
       Jahresende noch eine Rieseninfektionswelle plus [1][Medikamentenmangel].
       Aber dafür kann man sagen: Die innere Haltung stimmt! Und das ist doch
       einiges wert in diesen Zeiten.
       
       Die meisten Deutschen, so lobte kürzlich sogar [2][Energieminister Habeck],
       „wissen, was die Stunde geschlagen hat“. Sie sparen Strom und Gas, um die
       nationalen Energiereserven zu erhalten. Dabei schonen sie nicht einmal den
       eigenen Nachwuchs, wie ich an einem der kältesten Vorweihnachtsabende in
       Leipzig beobachten konnte: „So, und jetzt geht’s erst mal in die lauwarme
       Wanne!“, sagte eine Oma auf dem Weihnachtsmarkt zu ihren beiden
       triefnasigen Enkeln.
       
       Die nickten tapfer, denn auch sie wissen: Lauwarm baden heißt, Putin
       ärgern. Auf dem gleichen Markt saß ich in der Essecke einer Kleinfamilie
       gegenüber. Mann und Tochter meckerten lautstark über die „miese“ Wurst und
       die „nicht leckere“ Soljanka. Die Mutter hakte sich daraufhin beim Sohn
       unter und beschied: „Das nächste Mal lassen wir euch zu Hause.
       Ningeltrienen brauchen wir nicht!“
       
       Besonders freute mich natürlich das schöne sächsische Wort für
       „Meckerfritzen“. Außerdem aber erschien mir die resolute Sächsin als
       bewundernswertes Exemplar, quasi eine Verkörperung Habeck’scher Tugenden.
       Nicht ningeln, sondern den Budenfraß mit Glühwein runterspülen, und
       anschließend ab in die höchstens lauwarme Wohnung, die Küche bleibt für den
       Rest des Tages kalt! Ein Beispiel für eine selten gewordene Resilienz,
       diese Frau.
       
       ## Für 8 von 10 war 2022 schlecht
       
       Cem Özdemir sollte sie mal anrufen: Sie könnte (so sie nicht zur verbohrten
       Minderheit der Bratwurst-Ultras gehört) die [3][Ernährungsstrategie der
       Bundesregierung] beschleunigen und den Kantinenesser:innen den Weg zu
       weniger Fleischkonsum leuchten: „Der Wirsing wird gegessen, und zwar ohne
       Speck. Übergewichtige Klimaverpester brauchen wir nicht!“
       
       Wir verweichlichten Medienfritzen sind ja noch nicht so weit: In der taz
       jammern wir jeden Tag. Über die niederschmetternde Weltlage, die Gehälter,
       die krankheitszerlöcherte Personaldecke. Und machte man in der letzten Zeit
       den Fernseher an, wurde es auch nicht besser. Der frisch aus der Haft
       entlassene Steuerhinterzieher [4][Boris Becker] weinte im Interview vor
       allen Leuten. Sogar Machos der harten Sorte schluchzten hemmungslos in der
       Öffentlichkeit, wie der argentinische Torhüter – obwohl der doch gewonnen
       hatte.
       
       Aber wenn der Druck zu groß ist, dann muss halt alles raus. Wobei: Es geht
       auch anders, wie eine aktuelle Studie der OSZE zeigt: Demnach stieg in den
       letzten zwei Jahrzehnten der Konsum von Antidepressiva in Europa dramatisch
       an. An der Spitze stehen ausgerechnet die Länder, die bei Glücksrankings
       immer ganz vorn mitlächeln, nämlich Island, Schweden und Norwegen. Die als
       „hyggelig“ bekannten Dänen sind übrigens auf Platz 9 von 18, was auch dafür
       spricht, dass sie ihrer guten Laune massiv nachhelfen.
       
       Die ganze nordische Wohlfühlnummer ist also erschummelt – nur die
       pharmaskeptischen Deutschen zetern, barmen und heulen sich weiterhin nach
       alter Väter Sitte durchs Leben. Allerdings, das zeigt die OSZE-Erhebung
       auch: Wir haben uns in den letzten 20 Jahren stetig auf Platz 13
       hochdosiert. Offenbar sind aber noch nicht genug von den Gemütsaufhellern
       im Umlauf.
       
       Laut einer aktuellen Umfrage finden 8 von 10 Deutschen, dass das Jahr
       „schlecht für Deutschland“ war – und in der sächsischen Weltstadt des Senfs
       – Bautzen – fürchtet sich [5][ein CDU-Landrat] vor Flüchtlingen, die „sich
       in unsere Wohnungen integrieren“ und damit den sozialen Frieden
       gefährdeten. Mir fallen beim gefährdeten Frieden eher ältere Herren mit
       karierten Tweedjackets ein, die den Staatsstreich planen. Aber ich wollte
       mich dieses Jahr ja nicht mehr aufregen.
       
       Ich kaufe jetzt Sekt und Schokolade, erprobte Glücklichmacher. Ab sofort
       wird nicht mehr geningelt. Frohes Fest!
       
       24 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Mangel-an-Medikamenten/!5904165
   DIR [2] /Habeck-zum-Energiesparverhalten/!5901044
   DIR [3] /Ernaehrungsstrategie-der-Bundesregierung/!5900898
   DIR [4] /TV-Interview-mit-Boris-Becker/!5900913
   DIR [5] /Rassismus-zum-Fest/!5901032
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nina Apin
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumne Der rote Faden
   DIR Energiesparen
   DIR Boris Becker
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Robert Habeck
   DIR Fieber
   DIR Energiepreise
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Preisregeln für Kindermedikamente: Weihnachten ohne Fieber
       
       Gesundheitsminister Karl Lauterbach will gegen die Billig-Politik bei
       Medikamentenpreisen vorgehen. Dazu legte er Eckpunkte vor.
       
   DIR Die These: Sparen kann auch Spaß machen
       
       Angesichts gestiegener Preise für Strom und Gas ist Sparen das Gebot der
       Stunde – mitunter auch Hamstern, meint unser Autor. Er übt sich in beidem.
       
   DIR Kolumne Nebensachen aus Jerusalem: Solarzelle statt kalt duschen
       
       Missmanagement und Arabischer Frühling bescheren Israel einen unerwarteten
       Aufschwung der Solarenergie. Denn Strom wird immer knapper.