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       # taz.de -- Ausstieg aus der Prostitution: Gefangen im Milieu
       
       > Für Prostituierte ist es schwer, einen anderen Job zu finden. Das ist
       > auch in Hamburg so, wo Sexarbeit als Touristenattraktion etabliert ist.
       
   IMG Bild: Gleichermaßen schmuddelig wie berühmt: Die Eingangstür der Kiez-Kneipe „Zur Ritze“
       
       Marlene hat sich entschieden auszusteigen – dieses Mal endgültig. Sie hat
       als Prostituierte in Hamburg gearbeitet. Sie hat es getan, weil sie
       emotional abhängig war, wie sie sagt. Abhängig von einem Mann, den sie auf
       einer Party kennengelernt hatte und in den sie sich verliebte. Er versprach
       Marlene die große Liebe – und führte sie in die Szene ein. Neugierig und
       mit familiären Problemen, die auf ihren Schultern lasteten, ließ sie sich
       überreden.
       
       Marlenes Stimme wirkt gefestigt, als sie davon erzählt. Weil sie anonym
       bleiben möchte, hat sie ihre Kamera beim Videoanruf ausgeschaltet. Auch
       ihren Nachnamen will Marlene nicht genannt wissen. Zu groß ist ihre Angst
       vor Stigmatisierung. Eineinhalb Jahre hat sie als Prostituierte gearbeitet.
       Fast genauso lange hat sie darüber nachgedacht, das Milieu zu verlassen.
       Als sie eines Tages weggerannt ist, wusste sie nicht, wohin – und ist
       umgedreht. Heute sagt sie, ihr habe eine Anlaufstelle gefehlt. Erst durch
       ihre Schwester konnte sich Marlene lösen.
       
       918 Sexarbeitende waren im Juli 2022 laut Sozialbehörde in Hamburg
       angemeldet. Wie viele es tatsächlich sind, lässt sich schwer feststellen.
       Falls sich eine Prostituierte in Hamburg entscheidet auszusteigen, macht
       sie das in einer Stadt, in der ihre Arbeit einen besonderen Stellenwert
       hat: In keiner anderen deutschen Stadt ist das Rotlichtviertel ein
       Touristenmagnet, erläutert der Soziologe Thorsten Benkel, der an der
       Universität Passau zu Prostitution in deutschen Großstädten forscht.
       
       Der Hamburger Stadtteil St. Pauli, wo sich das Rotlichtviertel um die
       Reeperbahn erstreckt, lebe gewissermaßen von der touristischen
       Anziehungskraft der Sexbranche, sagt Benkel. Sie werde für Junggesellen und
       Männergruppen geradezu beworben. “Sexarbeit hat dort einen Eventcharakter,“
       meint Benkel. [1][Anders sieht das im Stadtteil St. Georg aus.]“ Da ist
       kein Glamour, kein cooler Club, keine laute Musik mit Strip-Shows“, sagt
       Benkel. Stattdessen spiele sich dort Drogen- und Elendsprostitution ab.
       „Das ist ziemlich schizophren in Hamburg“, resümiert der Soziologe.
       
       Die Unterschiede von Prostitution in St. Georg und St. Pauli gründen auf
       der seit 1980 bestehenden Sperrgebietsverordnung. Demnach ist Prostitution
       an öffentlichen und öffentlich einsehbaren Orten in den Stadtteilen St.
       Georg, Neustadt, St. Pauli und Altona-Altstadt verboten. Ausgenommen sind
       die Herbertstraße sowie angrenzende Straßen auf St. Pauli. In St. Georg
       findet Prostitution demzufolge „unter den Bedingungen des Verbots“ statt,
       schreibt Jenny Künkel in ihrem 2020 erschienenen Buch „Sex, Drugs &
       Control“. Im Vordergrund steht hier Drogen- und Armutsprostitution.
       
       Die Soziologin Barbara Kavemann unterscheidet drei Formen von Sexarbeit,
       die auch den Ausstieg von Frauen wie Marlene beeinflussen können: Sexarbeit
       auf Basis der eigenen Entscheidung, Sexarbeit aus einer Not heraus, zum
       Beispiel um Schulden zu begleichen oder aufgrund einer (emotionalen)
       Abhängigkeit, und die Zwangsprostitution in Zusammenhang mit Ausbeutung und
       Gewalt. In diesem Text geht es nicht um die Zwangsprostitution.
       
       Gründe für den Ausstieg gibt es auch viele: Sie reichen von
       Gewalterfahrungen bis hin zum selbstbestimmten Entschluss, das Berufsfeld
       zu wechseln. Doch ein Ausstieg ist schwierig.
       
       Ein Problem ist, dass Prostituierte mit Stigmatisierung zu kämpfen haben.
       Marlene berichtet von einer „Parallelwelt“, von dem Gefühl, nicht zur
       Gesellschaft dazuzugehören. „Man wird nicht gesehen und kommt sich vor wie
       ein Fremdkörper“, sagt sie. Sie würde sich ein Umdenken der Menschen
       wünschen, so dass nicht auf die Frauen herabgeschaut wird. “Immer heißt es
       'die dreckige Prostituierte’. Es sind die Frauen, die Schuld haben, die es
       nicht anders wollen“, sagt sie. „Dass Freier in den Puff gehen, ist aber
       okay.“
       
       Auch die seit zehn Jahren aktive Sexarbeiterin Josefa Nereus kennt das
       Problem: „Es gibt keinen Ort, wo ich als Sexarbeiterin keine
       Stigmatisierung erfahre.“ Gleichzeitig bedeute ein Ausstieg, die bisherige
       Bezugsgruppe innerhalb des Sexgewerbes zu verlieren. Das könne zur
       Isolation führen. „Die anderen wollen nichts mit einem zu tun haben“, sagt
       Nereus.
       
       Die Jobsuche nach einem Ausstieg stellt eine weitere Hürde dar. Immer
       wieder werde geleugnet, dass in der Sexarbeit Kompetenzen erlangt werden,
       die für andere Berufe vorteilhaft sein könnten. Sexarbeiterin Josefa Nereus
       spricht von “Verhandlungs- und Kommunikationsgeschick“, “hoher
       Stressresistenz“ sowie von der „Fähigkeit, sich selbst zu organisieren“.
       
       Dass diese Kompetenzen nicht anerkannt werden, sorgt bei
       Bewerbungsunterlagen für Probleme. „Bei manchen existiert dann eine große
       Lücke im Lebenslauf, die man nicht einfach so beschönigen kann“, sagt
       Marlene. Die Angst vor einer Stigmatisierung sei zu groß. „Die meisten
       würden lieber in ihrem Lebenslauf schreiben, dass sie arbeitslos waren und
       es komplett verheimlichen“, sagt Josefa Nereus. Eine andere Erklärung für
       die Lücke im Lebenslauf sei das Pflegen von Angehörigen.
       
       Während Ex-Prostituierte Marlene zu ihrem Arbeitgeber aus der Studienzeit
       zurückgekehrt ist, müssen andere Aussteigende staatliche Hilfen beantragen,
       um ihre Existenz zu sichern. Doch die Jobcenter tun sich mit Prostituierten
       oft schwer, wie die Projektleiterin der städtischen Beratungsstelle
       Basis-Projekt, Stefanie Grabatsch, sagt: „Wo sollen sie auf den
       Arbeitsmarkt hin wechseln, wenn sie nicht unterstützt werden? Das ist
       absurd.“
       
       Geschäftsführerin Gudrun Greb von der Beratungsstelle Ragazza sagt aber
       auch, dass solche Vorfälle von den zuständigen Sachbearbeitenden abhängen.
       „Leider ist das Jobcenter von der Struktur nicht so ausgerichtet, dass da
       immer Leute sitzen, die allen Menschen die gleichen Chancen geben.“
       
       Das Jobcenter Hamburg dementiert auf Anfrage, dass es zu stigmatisierenden
       Vorfällen gekommen ist. Allerdings gibt es auch keine Schulungen, die die
       Mitarbeitenden für Stigmatisierungen sensibilisieren.
       
       Hinsichtlich des finanziellen Drucks befinden sich die Aussteigenden in
       einem Teufelskreis, da sind sich alle Hamburger Beratungsstellen einig.
       Ohne eine Arbeitsstelle bekommen sie keine Unterkunft. Um einen
       Arbeitsvertrag abschließen zu können, brauchen sie aber eine Meldeadresse,
       demnach eine Unterkunft.
       
       Doch gerade an Unterkünften und Schutzräumen mangelt es beim Ausstieg
       häufig – für Marlene war das eine der größten Hürden. In ihrer Beziehung
       erfuhr sie zunehmend Gewalt: „Ich war nur noch Mittel zum Zweck und sollte
       Geld bringen.“ Doch sie blieb, weil sie von ihrem Freund, der gleichzeitig
       ihr Zuhälter war, unter Druck gesetzt wurde. „Er hat gedroht, dass meiner
       Familie etwas passiert“, erzählt Marlene.
       
       Als sie sich endlich traute, wegzulaufen, scheiterte sie zunächst. „Ich
       wusste nicht wohin“, sagt Marlene. Ihr fehlte eben eine Anlaufstelle, die
       Schutz und Unterkunft bietet. In Hamburg verfügt nur eine Beratungsstelle
       für Prostituierte, das Basis-Projekt von Basis & Woge, über Wohnraum, der
       Sexarbeitenden kurzzeitig und unbürokratisch zur Verfügung gestellt werden
       kann. Allerdings: Das Angebot richtet sich an Betroffene unter 25 Jahren.
       Alle Vertreterinnen der Hamburger Beratungsstellen sind sich einig, dass
       das nicht ausreicht.
       
       Wie ein umfassenderes Angebot aussehen könnte, hat die Stadt Hamburg schon
       einmal von April 2020 bis Ende Juni 2022 vorgemacht. Aufgrund des
       coronabedingten Prostitutionsverbots fiel für viele Sexarbeitende die
       Einnahmequelle zur Existenzsicherung weg. Die Sozialbehörde stellte deshalb
       in Kooperation mit den ansässigen Beratungsstellen mehrere Zimmer in einem
       Hostel zur Verfügung.
       
       Dort hatten die Prostituierten nicht nur ein Dach überm Kopf, sondern sie
       wurden auch sozialpädagogisch betreut. Das bedeutet, die Beratungsstellen
       klärten Prostituierte über mögliche Perspektiven auf – auch über einen
       Ausstieg. Die damalige Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) sowie
       Vertreter der Beratungsstellen Ragazza und Sperrgebiet bewerteten das
       Angebot als effektiv. Viele Sexarbeiterinnen hätten sich während ihres
       Aufenthalts gefestigt.
       
       Hamburg plant, die bestehende Lücke an Schutzräumen weiter zu verkleinern.
       Das geht aus einer Mitteilung der damaligen Sozialsenatorin an die
       Bürgerschaft hervor. Unter dem Arbeitstitel „Wege aus der
       Armutsprostitution“ soll die Unterbringung und Beratung von zwölf bis
       maximal 24 Sexarbeitenden, die von Armut und Obdachlosigkeit bedroht sind,
       ermöglicht werden. Ziel der begleitenden Betreuung sei es, bei einer
       Professionalisierung innerhalb des Gewerbes oder einem Ausstieg aus der
       Prostitution Hilfe zu leisten.
       
       Von den Organisationen, die Prostituierte in Hamburg unterstützen, wirbt
       nur das „Sperrgebiet“, eine Einrichtung des Diakonischen Werks, aktiv mit
       Beratung und Unterstützung beim Ausstieg. Ragazza und das Basis-Projekt
       sprechen wörtlich nicht von einem “Ausstieg“ aus der Sexarbeit, sondern von
       einem “Wechsel“. Sie begründen dies damit, dass Sexarbeit wie andere Berufe
       anerkannt werden sollte, von denen man womöglich umsteige, aus denen man
       aber nicht aussteige.
       
       Am Ende war es Marlenes Schwester, der sie sich anvertraute und die ihr
       Optionen aufzeigte „Ich wusste nicht, dass es Hilfe beim Ausstieg gibt“,
       sagt Marlene.
       
       Aktive Ausstiegshilfen fordern Organisationen wie das Netzwerk Ella und der
       Verein Sisters. Sie plädieren für das [2][Nordische Modell], das ein
       Sexkaufverbot vorsieht. Doch in Hamburg sind sie kaum vertreten.
       
       Auf Anfrage erklärt die Sozialbehörde, Hamburg vertrete eine
       „akzeptierende, inkludierende und wertschätzende Position“ gegenüber allen
       in der Sexarbeit tätigen Menschen – Formen der Zwangsprostitution,
       Ausbeutung und des Menschenhandels ausgeschlossen.
       
       In einem Schreiben an die Bürgerschaft vom Januar 2020 distanziert sich der
       Senat vom Nordischen Modell. In dem Schreiben heißt es: „Die negativen
       Effekte eines Sexkaufverbots überwiegen.“
       
       Fürsprecher des Nordischen Modells würde die Stadt weitestgehend
       ignorieren, sagt Suntje Brumme von Sisters. Anders als in Stuttgart oder
       Leipzig ist die Hamburger Ortsgruppe des Vereins aufgrund fehlender Räume
       und Unterstützung nicht aktiv.
       
       Marlene hat sich inzwischen dem Netzwerk Ella angeschlossen. In Hamburg ist
       das Netzwerk nicht vertreten.
       
       Julia Haas und Christina Said studieren Journalistik und
       Kommunikationswissenschaft an der Uni Hamburg. Dieser Text ist im Rahmen
       eines Recherche-Seminars in Kooperation mit der taz nord entstanden.
       
       25 Nov 2023
       
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