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       # taz.de -- Serie „Wednesday“: Makeover für eine Goth-Ikone
       
       > Netflix hat die Figur der missgelaunten Teenagerin aus der „Addams
       > Family“ ins Heute übersetzt. Dabei hat „Wednesday“ an Charme eingebüßt.
       
   IMG Bild: Jenna Ortega ist die neue „Wednesday“, hier zu sehen als deren Vorfahrin „Goody Addams“
       
       Noch kurz vor Jahresende hat [1][Netflix] seinen nächsten Megahit gelandet.
       Die Serie „Wednesday“ sei weniger als einen Monat nach Veröffentlichung
       mehr als eine Milliarde Stunden gestreamt worden, sagt die
       Streamingplattform. Nur „Squid Game“ und die vierte Staffel von „Stranger
       Things“ übertreffen diese Zahl noch.
       
       Die achtteilige Erzählung um die titelgebende Tochter (Jenna Ortega) der
       längst kultigen „Addams Family“ hat selbst über Netflix’ Grenzen hinaus
       einen regelrechten Hype ausgelöst. Modezeitschriften und Fashion Blogs
       analysieren ihre düstere Garderobe, verkünden gar die Rückkehr des
       Goth-Lifestyles als den Trend schlechthin. Eine Entwicklung, die überrascht
       mit Blick auf die Vorlage aus den Neunzigern, die beiden
       „Addams-Family“-Filme von Barry Sonnenfeld. Nachdem die Komödien erschienen
       waren, setzten sich knallbunte Kleidung, Tattoo-Ketten aus Plastik und das
       „Arschgeweih“ durch.
       
       Die Wednesday des Kinos (Christina Ricci) stand nicht nur durch ihr
       immergleiches Kleid mit weißem Kragen und den zu strengen Zöpfen
       geflochtenem Haar in Konflikt mit ihrer Zeit. Ihre stoische Art sowie ihre
       Romantisierung von Leid und Tod waren geradezu unvereinbar mit dem
       hedonistischen Zeitgeist am Ende des letzten Jahrtausends, das bekanntlich
       von Party-Euphorie und Popstarkult geprägt war. Wednesday war grundlegend
       anders, auch aufrührerisch. Unvergessen ist ihre Sabotage eines
       Thanksgiving-Theaterstücks und ihre furiose Rede über die Gräueltaten der
       Siedler gegen die amerikanischen Ureinwohner.
       
       Wie kommt es, dass dieses Idol unwillkommener Einzelgänger*innen
       plötzlich für derart breite popkulturelle Begeisterung sorgen kann, gar als
       Stil-Ikone gehandelt wird? Die oscarprämierte Kostümbildnerin Colleen
       Atwood („Edward mit den Scherenhänden“) ist zum Teil dafür verantwortlich.
       Sie verleiht Wednesday gegenüber den Filmvorlagen, die sich noch an der
       TV-Serie der 1960/70er sowie den Cartoons des New Yorker der 1930er Jahre
       orientierten, einen modernen Look. Auch wenn die „gruftige“ Protagonistin
       weiterhin mehrheitlich in Schwarz zu sehen ist, gehören nun auch
       Kapuzenpollover, Denim- und Lederjacken sowie gestreifte T-Shirts zu ihrer
       Garderobe. Atwood sagte der Modeplattform Refinery29, sie habe den Stil der
       Figur der heutigen, von TikTok geprägten Welt anpassen wollen.
       
       Das Ziel, etwas zu kreieren, das an aktuelle Trends anschließt, ist auch in
       der Geschichte, in die die Kultfigur eingebettet ist, wiederzuerkennen. Die
       Story verbindet zwei höchst angesagte Teengenres miteinander:
       Highschool-Drama und Murder Mystery. Denn die Eltern Morticia (Catherine
       Zeta-Jones) und Gomez (Luis Guzmán) schicken Wednesday auf ein Internat für
       Jugendliche mit übersinnlichen Fähigkeiten oder monströsen Attributen. Im
       Umfeld dieser „Nevermore Academy“ ereignen sich mysteriöse Morde, auch ein
       überwunden geglaubter Verdacht gegen Wednesdays Vater wird neu aufgerollt,
       weshalb sie nun auf eigene Faust Ermittlungen anstellt.
       
       Wednesday, die Morde aufzuklären versucht, anstatt sich an ihnen mit
       morbider Freude zu ergötzen? Von dem, was die Figur bislang verkörperte,
       ist das denkbar weit entfernt. Zudem entspinnt sich bald eine recht
       konventionelle Erzählung um typische Coming-of-Age-Elemente, wie die
       Komplexität von Freundschaft und die erste Liebe.
       
       Gleich zwei junge Männer werfen ein Auge auf Wednesday: Xavier (Percy Hynes
       White), Mitschüler und geplagte Künstlerseele, sowie das „süßer, aber
       schüchterner Barista“-Klischee Tyler (Hunter Doohan).
       
       Die modernisierte Wednesday ist ein Bruch mit der alten, aber auch mit sich
       selbst. Wednesday war Galionsfigur jugendlicher Außenseiter*innen, indem
       sie sich mit einer gewissen Erhabenheit vom gemeinhin Akzeptierten absetzte
       und dabei mitunter sogar bissige Kritik an dessen Heuchelei anbrachte. Die
       Netflix-Wednesday hingegen nähert sich in ihrem Verhalten bisweilen dem
       Normalen an, etwa wenn sie sich bei aller zunächst zur Schau gestellten
       Abneigung für ihre zwei durchschnittlichen Verehrer interessiert.
       
       Nur ihre Aussagen transportieren weiterhin eine scharfzüngig-charmante
       Antihaltung. Etwa wenn sie mit „Die Hölle, das sind die anderen“ Jean-Paul
       Sartre zitiert und den Existenzialisten als ihren ersten Schwarm bezeichnet
       – oder wenn sie die sozialen Medien „seelensaugender Hohlraum der
       bedeutungslosen Bestätigung“ nennt.
       
       ## „Gothic“-Kultur und Mainstream-Serie
       
       Könnte nun „Wednesday“ ein echtes Goth-Revival auslösen? Schwerlich. Was zu
       beobachten ist, ist höchstens ein Comeback der Ästhetik der Subkultur, etwa
       auf TikTok. Dort machen Unzählige eine Choreografie aus der Serie nach. Bei
       der Musik hört die Begeisterung für die „Szene“ für viele allerdings schon
       auf: In den meisten TikTok-Clips wird der Originalsong aus der Serie
       kurzerhand ersetzt. Aus „Goo Goo Muck“ der Gothabilly-Band The Cramps wird
       Lady Gagas zugänglicherer Popsong „Bloody Mary“.
       
       Nimmt man die [2][Gothic-Kultur] in ihrer Begeisterung für die Schwarze
       Romantik ernst, geht ihr Reiz in erster Linie von ihrer Suche nach der
       Schönheit des Dunklen in Literatur, Film und Kunst aus. Weil diese
       Schönheit Tiefgründigkeit verspricht. Was oft mit einer lebensverneinenden
       Einstellung verwechselt wird, meint eigentlich nur die Verneinung des
       Mainstreams, des Oberflächlichen, das Gegenteil des Gedankenvollen.
       
       „Wednesday“ ist immer dann am wirkungsvollsten, wenn sie sich genau dieser
       Verneinung annähert. Dank dieser Negation sticht die von Alfred Gough und
       Miles Millar („Smallville“) entwickelte Serie trotz aller Trendigkeit
       überaus wohltuend aus dem Einheitsbrei aus Gegenwartsgeschmack hervor, der
       bei Netflix bisweilen zu finden ist. Etwa in besagten bissigen Kommentaren,
       und immer dann, wenn die Addams Family mitsamt ihrer Marotten eben nicht
       als dysfunktional, sondern als liebevoller, ja als aufrichtigerer
       Gegenentwurf zum bigotten Eitel-Sonnenschein-Familienideal gezeigt wird.
       
       Unterhaltsam ist die morbide Kultfigur „Wednesday“ also auch im 21.
       Jahrhundert, keine Frage. Man kommt allerdings nicht umhin, sich
       vorzustellen, wie viel Spannenderes möglich gewesen wäre, hätte man sie in
       weniger trendtaugliche Genrekontexte übersetzt und sie „in verrückter
       Tradition“ ein wenig öfter die Oberflächlichkeiten unserer Zeit hätte
       anprangern lassen.
       
       26 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Arabella Wintermayr
       
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