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       # taz.de -- Freiheitskampf in der Ukraine und Iran: Angst als faule Ausrede
       
       > Mutlosigkeit ist ein Luxus, den sich Ukrainer und Iranerinnen nicht
       > leisten können. Von ihnen sollten wir lernen, an die Kraft zum Wandel zu
       > glauben.
       
   IMG Bild: Bewohner von Cherson feiert ukrainischen Soldaten nach der Befreiung der Stadt im November
       
       Muss nur noch kurz die Welt retten, sang Tim Bendzko vor über zehn Jahren,
       und gefühlt lief [1][dieser Song] seit einem Jahrzehnt in Dauerschleife und
       machte die Runde um die Welt: Fast alle sind für irgendeine Weltrettung
       zuständig, und obwohl ich dankbar bin für jene Menschen, die unermüdlich
       wirken, macht sich in meinem Kopf zum Ende des Jahres die vollkommene
       Weltrettungsmüdigkeit breit, obwohl ich weiß, davon kommt nichts.
       
       Ich versuche meistens auch, den Funken Hoffnung zu finden, die
       Handlungsfähigkeit des Einzelnen zu betonen, an die vereinte Kraft der
       vielen zu glauben. Vielleicht ist es zum Ende des Jahres aber auch möglich,
       gewisse Gefühle von Mut- und Machtlosigkeit auszusprechen, statt immer nur
       den Mutmuskel zu beschwören, wie so viele das derzeit notgedrungen tun. Zum
       Ende des Jahres das Zweifeln eingestehen, auch jene Momente zuzulassen, in
       denen ich denke, es führt doch alles zu nichts.
       
       Warum sollte ich mich nicht einem Moment lang der Dystopie hingeben, zumal
       mich das neue Jahr mit seinen guten Vorsätzen bald schon einholen wird. Es
       gab zu Beginn dieses Jahres drei Tage, in denen mich Gefühle von Mut- und
       Machtlosigkeit völlig in Besitz nahmen.
       
       Das war, als die ersten Bilder von russischen [2][Panzern zu sehen waren,
       wie sie auf Kiew zurollten]; ein taubes Gefühl von Ohnmacht, das sich
       einstellte, weil man denkt, man hat das Leid, das auf solche Bilder folgt,
       schon einmal gesehen und niemand wird es verhindern. Man zuckt nach dem
       Massaker von Butscha nur mit den Schultern, weil es niemand verhindert hat,
       es war ja vorhersehbar.
       
       ## Mehr Respekt für die Ukrainer
       
       Es sind Momente, in denen Begriffe wie Weltgemeinschaft wie Hohn
       erscheinen. Man könnte sich in Zynismus flüchten, bis man die Ukrainer
       selbst kämpfen sieht, bis man sieht, wie [3][die Menschen dort] die Kraft
       finden, sich zur Wehr zu setzen und uns so in die Pflicht nehmen: Wie
       können wir, die wir in Frieden leben, in Mutlosigkeit verharren, wenn die
       Ukrainer an der Hoffnung festhalten? Ist es für uns, die wir in Frieden
       leben, zu viel verlangt, mit den Kämpfenden zu hoffen?
       
       Es hätte im deutschen Diskurs dieses Jahr viel mehr Respekt geben sollen
       vor dem Mut der Ukrainer, anstatt dass wir Debatten darüber führen mussten,
       wie viel Angst manche in Deutschland vor Putin haben. Die Debatten über die
       Ukraine zeigten, wie bequem wir Deutschen es uns gemacht haben mit unseren
       Ängsten, wie legitim es geworden ist, die eigenen Ängste öffentlich zu
       betrachten und sie trophäenartig als Entschuldigung für
       Handlungsunfähigkeit anzuführen.
       
       Wer Angst hat, muss nicht handeln, wer Angst hat, der muss seine eigenen
       Ängste tätscheln. In den deutschen Dauerschleifen der Pseudodifferenzierung
       entsteht jedoch nichts als Lethargie. Manchmal, wenn deutsche Diskurse in
       dieser Selbstreferenzialität jedes Handeln zum Erliegen bringen, spüre auch
       ich, wie das Nichthandeln zur reizvollsten, selbstgefälligsten Option wird,
       weil man nicht mehr daran glaubt, etwas bewegen zu können.
       
       In diesem Sinne war die Radikalität der [4][Letzten Generation], ganz
       gleich wie umstritten manche Aktionen sind, ein Hoffnungsschimmer inmitten
       einer politischen Landschaft, in der sich die meisten mit den
       Beharrungskräften längst arrangiert haben. Sie lassen sich in ein Gefängnis
       sperren, obwohl sie wissen, dass es diese Gesellschaft mehrheitlich nicht
       interessieren wird, denn die klebt an ihren Routinen und würde lieber die
       Welt untergehen sehen als ihre liebgewonnen Gewohnheiten.
       
       ## Machtlos zusehen müssen
       
       Wenn in Deutschland Menschen, die für das Klima kämpfen, plötzlich [5][zur
       RAF erklärt] werden können, während Rechtsextreme und das Ausmaß ihrer
       Gewalt oft jahrelang im Verborgenen den Staat bedrohende Strukturen
       schaffen können, dann überrollt mich ein Gefühl von Mutlosigkeit, weil es
       zeigt: Auch ohne Horst Seehofer lebt der Irrsinn beliebiger
       Hufeisenvergleiche weiter.
       
       Es war ein Jahr, in dem ich oft Angst hatte, meinen Twitter- oder
       Instagram-Account zu öffnen, weil die [6][Freiheitskämpferinnen im Iran]
       ihre Geschichten auf den sozialen Plattformen in die Welt setzten. Ja, die
       verfluchte Angst, die ich anderen so gerne ankreide, die mich überkommt,
       wenn ich weiß, ich sehe Bilder und Videos von Menschen, die um ihr Leben
       kämpfen und ich kann nicht viel mehr tun, als ihre Gesichter in meinen
       Texten teilen, eine Petition unterschreiben oder Menschen loben, die ihre
       Geschichten verbreiten helfen.
       
       Nichts davon wird viel ändern. All die Momente, in denen es mir peinlich
       war, dass sich meine Hilfe im Teilen von Social-Media-Posts erschöpfen
       sollte, und doch schrieben Iranerinnen: „Thank you for being our voice.“
       Jenseits des Zynismus, jenseits der Abgeklärtheit glauben sie an die
       Veränderung zum Besseren, während wir in den freieren Teilen der Welt den
       Kopf über ihre Freiheitsbewegung beugen und richten, ob sie es dieses Mal
       schaffen, das Regime zu stürzen oder ob es „wieder nur“ ein Aufbäumen ist.
       
       Die Bilder aus Afghanistan, die zeigen, wie die Taliban in Schulen tanzen,
       weil sie Mädchen und jetzt auch [7][Frauen den Zugang zu Universitäten]
       verweigern. Ich denke dabei auch an deutsche Soldaten, die dort im Einsatz
       waren, die ihre Lebenszeit gaben, weil sie dachten, sie bauen ein
       lebenswerteres Afghanistan auf. Diese Mutlosigkeit, wenn ich denke, alles,
       was man tun kann, ist das Elend der Welt über Posts und Kacheln mit in die
       Welt zu schreien, weil auch ich kurz die Welt retten will, wie viele andere
       auch.
       
       Ich wünsche mir fürs nächste Jahr, dass wir mehr Kraft finden, die Welt
       nicht nur zu retten, sondern eine neue Ordnung zu schaffen. So mutlos, dass
       ich vergesse, jeder entscheidende politische Wandel ging von Menschen aus,
       bin ich selbst Ende des Jahres nicht. Wir müssen nur noch lernen, so sehr
       an die Kraft zum Wandel zu glauben wie jene Menschen, die in Regimen leben,
       in denen sie alles für ihre Überzeugungen aufs Spiel setzen.
       
       28 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=NYVA9GMsnbQ
   DIR [2] /Nachrichten-zum-Angriff-auf-die-Ukraine/!5837492
   DIR [3] /Stimmen-aus-der-Ukraine/!5901216
   DIR [4] /Blockaden-der-Letzten-Generation/!5896676
   DIR [5] /Ex-RAFler-ueber-Letzte-Generation/!5891843
   DIR [6] /Frauen-in-Iran/!5901169
   DIR [7] /Univerbot-fuer-afghanische-Frauen/!5900883
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jagoda Marinić
       
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