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       # taz.de -- Iranische Protestbewegung in Berlin: „Die Despoten setzen auf Zeit“
       
       > Der Verfassungsschutz muss den iranischen Geheimdienst in Berlin genauer
       > beobachten, fordert die Vorsitzende des Innenausschusses, Gollaleh
       > Ahmadi.
       
   IMG Bild: Demo zum globalen Protesttag Iran Revolution am 19. November in Berlin
       
       taz: Frau Ahmadi, mit was für einem Gefühl gehen Sie mit Blick auf die
       Protestbewegung im Iran in das neue Jahr? 
       
       Gollaleh Ahmadi: Ich habe gemischte Gefühle. Es ist niederschmetternd, wie
       versucht wird, die Protestbewegung im Iran niederzuschlagen. Todesurteile
       werden ausgesprochen, als gehe es nicht um Menschenleben, sondern um
       Falschparken.
       
       Was ist Ihre Prognose? 
       
       Ich blicke trotzdem optimistisch in die Zukunft. Die Proteste sind ja nicht
       von heute auf morgen entstanden. Sie sind Ergebnis eines langen Prozesses.
       In den letzten 43 Jahren hat es immer wieder Protestzyklen gegeben, das
       letzte Mal ist zwei, drei Jahre her. Jetzt sind sie kontinuierlich. Ich
       höre aus dem Iran, dass es kein Zurück mehr gibt, wenn man jetzt aufhört,
       würde sich das Regime gestärkt fühlen. Revolution bedeutet leider auch,
       dass Blut fließt. Aber die Menschen wollen sich nicht mit oberflächlichen
       Veränderungen abspeisen lassen. Sie kämpfen für ihre Freiheit. Sie
       schreiben gerade feministische Weltgeschichte
       
       Fühlen Sie sich als Teil der Solidaritätsbewegung? 
       
       Natürlich! Ich gehe demonstrieren und als Abgeordnete nutze ich die
       parlamentarischen Instrumente und bringe Anträge im Abgeordnetenhaus ein.
       
       Haben Sie ein Beispiel? 
       
       Ich habe mich für einen Abschiebestopp in den Iran eingesetzt. Und Anfang
       Dezember haben wir den Senat aufgefordert, die Aktivitäten des iranischen
       Geheimdienstes in Berlin genauer zu beobachten. Dass oppositionelle
       Journalisten, die in Deutschland leben, zum Beispiel einen besseren Schutz
       bekommen. Die Initiative ging von meiner Fraktion, den Grünen, aus, aber am
       Ende war es eine Initiative von allen demokratischen Fraktionen.
       
       Als Grüne sind Sie Teil der Regierung, ist das eine Forderung an sich
       selbst? 
       
       Auch als Regierungskoalition kann man den Senat auffordern genauer
       hinzugucken. Was den Iran betrifft, machen wir in Berlin schon sehr viel.
       Innensenatorin Iris Spranger hat von sich aus entschieden, keine Menschen
       mehr in den Iran abzuschieben. Aber wir fordern ein Gesamtkonzept mit den
       anderen Bundesländern und der Bundesregierung. Oppositionelle werden hier
       ja auch bedroht oder fotografiert.
       
       [1][Ende Oktober gab es zum Beispiel den Angriff auf die Protestwache vor
       der iranischen Botschaft.] Die Täter wurden nicht gefasst. 
       
       Die Ermittlung laufen noch. Der Angriff war ein zusätzlicher Weckruf. Die
       Oppositionellen aus dem Iran sind nicht sicher!
       
       Was antwortet Innensenatorin Spranger, wenn Sie einen besseren Schutz
       fordern? 
       
       Im Verfassungsausschuss wurde gesagt, dass man die Demonstrationen genauer
       beobachtet. Konkrete Hinweise, dass bestimmte Personengruppen gefährdet
       sind, gebe es zurzeit aber nicht, hieß es.
       
       Beruhigt Sie das? 
       
       Nein. Dass es keine konkreten Hinweise gibt, bedeutet beim iranischen
       Geheimdienst überhaupt nichts. Ich gehe eindeutig davon aus, dass er in
       Berlin und Deutschland tätig ist. Wäre ja nicht das erste Mal.
       
       Sie selbst sind gebürtige Iranerin. 1996, als Ihre Eltern mit Ihnen nach
       Deutschland geflohen sind, waren Sie 14. Haben Sie freundschaftliche oder
       familiäre Verbindungen in den Iran? 
       
       Die habe ich. Aber um sie zu schützen, würde ich nicht sagen, in was für
       einem Verhältnis ich zu den Menschen stehe.
       
       Haben Sie manchmal Angst, wenn Sie sich gegen das Terrorregime exponieren? 
       
       Ich bin eine deutsche Politikerin, dadurch bin ich viel mehr geschützt als
       andere. Der iranische Geheimdienst wird sich mehrfach überlegen, ob er mich
       bedroht.
       
       Was hören Sie von anderen Demonstrantinnen und Demonstranten in Berlin, die
       iranischer Herkunft sind? 
       
       Ich kenne niemanden, der keine Angst hat um die Familie dort. Das läuft ja
       so, dass die Familie wegen der Aktivitäten in Deutschland im Iran
       Schwierigkeiten bekommen kann. Zum Teil werden dort Familien am Telefon
       bedroht: Wenn deine Verwandten in Deutschland so weitermachen, bekommst du
       Ärger. Aber auch das ist nichts Neues, das gab es auch früher schon.
       
       [2][In Berlin hat die Polizei ein Ermittlungsverfahren gegen einen
       Demonstranten eingeleitet, der bei einer Kundgebung „Tod Chamenei“ gerufen
       haben soll.] Was sagen Sie dazu? 
       
       Ich hoffe, dass das Verfahren eingestellt wird. Mir ist zu Ohren gekommen,
       dass das in den letzten Jahren schon öfter vorgekommen ist. Im neuen Jahr
       werde ich eine schriftliche Anfrage einreichen, wie viele
       Ermittlungsverfahren gegen Oppositionelle aus dem Iran es in den letzten
       zehn Jahren hier in Berlin gegeben hat. Und ich möchte wissen, wie damit
       umgegangen worden ist.
       
       Wie stark beschäftigen Sie die Ereignisse im Iran? 
       
       Sie sind sehr präsent. Ich stehe morgens auf und schaue sofort, was in der
       Nacht passiert ist. Meine Schwester und meine Eltern sind in Berlin, aber
       ich habe dort wie gesagt enge Bindungen. Entsprechend sind meine Sorgen
       auch persönliche. Die meisten Menschen aus dem Iran, die in Deutschland
       leben, sind aus politischen Gründen geflüchtet. Weil ihr Leben bedroht war
       und sie sich seit Jahrzehnten gegen das Regime aufgelehnt haben.
       
       Sie waren bei der Flucht Jugendliche. Was erinnern Sie aus dieser Zeit? 
       
       Ich war dort in der Kita, ich bin sieben Jahre im Iran zur Schule gegangen.
       Das war keine einfache Zeit. Meine Erinnerungen sind immer noch mit starker
       Panik verbunden. Als Kind zu wissen, sobald du von den Wächtern angehalten
       wirst, nehmen sie vielleicht deine Eltern mit. Weil die Mama das Kopftuch
       nicht so getragen hat, wie es vorgeschrieben war. Das war damals genauso
       wie heute. Die Wächter nahmen Leute willkürlich fest, sie hatten aber auch
       Listen mit Namen. Meine Eltern waren Oppositionelle. Vor meiner Geburt
       haben sie im Untergrund gelebt und sind nur knapp der Todesstrafe
       entkommen. In Deutschland musste ich erst lernen, dass Polizei Sicherheit
       anbietet. Dass man vor der Polizei keine Angst haben muss, dass man nicht
       sofort mitgenommen wird.
       
       Und heute sind Sie Vorsitzende des parlamentarischen Innenausschusses und
       haben dadurch besonders viel mit der Polizei zu tun. Empfinden Sie das
       manchmal als merkwürdig? 
       
       Überhaupt nicht, ich freue mich darüber. Natürlich gibt es einige Probleme
       mit der Polizei. Gerade sind ja wieder rassistische Chatgruppen innerhalb
       der Polizei bekannt geworden. Aber wir haben eine demokratische Kontrolle
       und können rechtlich dagegen vorgehen. Auch wenn die Polizei willkürlich
       agieren sollte, was zum Glück selten passiert. Wie bei dieser
       Wohnungsdurchsuchung des syrischen Ehepaars …
       
       … Sie meinen den Vorfall, [3][der im September durch ein Video bei Social
       Media] bekannt geworden ist.
       
       Ja. Wenn so etwas bekannt wird, wird dagegen auch vorgegangen. Das ist
       beruhigend.
       
       Was könnten die Berliner Bevölkerung und die Landesregierung tun, um die
       Proteste im Iran noch mehr zu unterstützen? 
       
       Egal ob Regierung oder Bevölkerung – wir müssen darauf achten, dass die
       Proteste im Iran hier nicht zum alltäglichen Geschehen werden. Man darf
       sich daran nicht gewöhnen, genauso wenig wie an den russischen
       Angriffskrieg auf die Ukraine. Die Despoten setzen auf Zeit. Sie rechnen
       damit, dass die Aufmerksamkeit nachlässt. Das darf mit dem Iran nicht
       passieren und das darf mit der Ukraine nicht passieren. Und auch mit
       Afghanistan nicht. Wenn wir das schaffen, haben wir sehr viel geschafft.
       Die Menschen im Iran sagen uns immer wieder: Wir sehen und hören eure
       Solidarität. Es sei das erste Mal, dass sie das so klar sehen können.
       
       Frau, Leben, Freiheit – woher kommt dieser Slogan, der bei den Protesten
       gegen das iranische Regime derzeit weltweit gerufen wird? 
       
       Er kommt aus der kurdischen Frauen- und Freiheitsbewegung. Es geht um jede
       einzelne Frau. Solange das einzelne Frauenleben nicht geschützt ist, nicht
       sicher ist, gibt es kein Leben und keine Freiheit.
       
       29 Dec 2022
       
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