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       # taz.de -- Atomkraftwerke als Denkmäler: Nicht geliebte Objekte
       
       > Manche wurden von berühmten Architekten gebaut, andere sind Denkmäler der
       > sozialen Bewegungen. Was tun mit den Atomkraftwerken?
       
   IMG Bild: Reaktor Würgassen: Die kontaminierten Teile sind rückgebaut, die Betonhülle ist „freigemessen“
       
       Wie fossile Riesen schmiegen sich die Betonanlagen in Felder, an Flüsse,
       ans Meer.
       
       Frankreich erklärt mit seinen bestehenden 56 AKWs eine energiepolitische
       Unabhängigkeit, 13 Länder planen derzeit weltweit den Einstieg in die
       Atomenergie. Aber in Deutschland werden Atomkraftwerke wahrscheinlich ab
       April 2023 Vergangenheit sein. Dabei schauen wir jetzt, in Zeiten der
       Energiekrise, ziemlich zerrissen auf die grauen Riesen. Selbst ein grüner
       Wirtschaftsminister Robert Habeck ist geneigt, den eigentlich längst
       entschiedenen Ausstieg aus der Atomkraft neu zu überdenken.
       
       Über 150 Meter hoch waren die Kühltürme des Atomkraftwerks Philippsburg,
       bevor man sie 2020 sprengte und die graue Energie von je 32.500 Tonnen
       Stahlbeton freisetzte.
       
       ## Atomkraftwerk als Denkmal
       
       Atomkraftwerke sind umstrittene Orte. Ihre Anlagen mit Kuppel und Kühlturm
       sind das Sinnbild einer Technologie, deren ewig strahlendes radioaktives
       Material unser menschliches Begriffsvermögen überschreitet. Vor ihrer
       Kulisse spielte sich mit den Anti-AKW-Protesten aber auch die größte
       Widerstandsbewegung der deutschen Nachkriegsgeschichte ab. Die Betonriesen
       sind „nicht geliebte Objekte“. Sollten sie nicht gerade deswegen erhalten
       bleiben, als „unbequemes Denkmal“, wie der Kunsthistoriker Nobert Huse es
       einmal im Zusammenhang mit der NS-Architektur formulierte?
       
       Die Stadtplaner:innen Stefan Rettich und Janke Rentrop bringen zum
       Neujahr ein Buch heraus, das ebendiese Frage nach dem Atomkraftwerk als
       Denkmal stellt.
       
       Der Band gibt Anlass, sich den ungewöhnlichen Gedanken einer Ikonografie
       der Atomkraft vorzunehmen. Sie beginnt mit der Moderne, das verdeutlicht
       auch die Architekturgeschichte. Kaum bekannt ist die Autorschaft von
       Kraftwerksbauten, doch wenn man die Erbauer kennt, dann taucht unter ihnen
       etwa der Name Philip Johnson auf. Der Architekt und Kurator, der den
       Begriff des „International Style“ in den Architekturdiskurs einführte,
       baute 1956 im israelischen Soreq einen Forschungsreaktor, geometrisch,
       archaisch, geradezu als Wüstenschloss. Der Franzose Pierre Dufau wiederum
       goss die französischen Trente Glorieuses in Beton, für Verwaltungsbauten,
       Bahnhöfe oder das AKW „La Boule“ in Chinon.
       
       ## Beschwingte Nachkriegsmoderne
       
       1955, die Bundesrepublik Deutschland trat der Nato bei, legte auch Konrad
       Adenauer ein Atomprogramm auf, um den Energiehunger des
       Wirtschaftswunderlandes zu stillen. „Wer keine Atomkraft im Angebot hat“,
       sagte Atomminister Siegfried Balke damals, „der wird auch keine Staubsauger
       verkaufen.“
       
       Im Kernforschungszentrum Karlsruhe sollte ab 1955 deutsche Atomtechnologie
       entwickelt werden. Künstlerisch sprach in Karlsruhe alles von Aufbruch und
       Fortschrittsglauben: Die Räume stattete man mit den Stahlrohrmöbeln des
       Bauhäuslers Marcel Breuer aus. Geplant hatte die Anlage Architekt Erich
       Schelling. Wie bei so vielen Personalien der Adenauer-Ära hatte auch
       Schelling eine braune Vergangenheit – er war NSDAP-Mitglied und trat der SA
       bei. Doch in den 1950er Jahren widmete er sich einer beschwingten
       Nachkriegsmoderne. Geometrisch, leicht, vergangenheitsvergessen sollte das
       Karlsruher Forschungsgelände werden. Dessen Reaktor setzte Schelling wie
       einen überkuppelten Tempel in Szene, künstlerisch nur übertroffen vom
       metallisch umhüllten „Atom-Ei“ im Forschungszentrum Garching.
       
       Als „Kaaba“ beschrieb überwältigt der Journalist Robert Gerwin 1957 das
       Reaktorinnere des Kernforschungszentrums in Karlsruhe. Die Euphorie zur
       Anfangszeit der Atomenergie in Deutschland, in der Gerwin technikgläubig
       propagierte, der gesamte Atommüll könne einfach per Rakete im All entsorgt
       werden, sie war wohl auch mit einer religiösen Ehrfurcht verbunden. Heute
       berechnet man für ein Endlager des radioaktiven Atommülls eine sichere
       Aufbewahrung von einer Million Jahren.
       
       ## Immense Zerstörungskraft
       
       Die Geschichte der Atomkraft ist begleitet von der militärischen Nutzung
       der Kernphysik. Auch Adenauer hatte militärische Absichten. Als man ab 1956
       auf dem Krümmel bei Geesthacht – dort hatte schon Alfred Nobel um 1866 die
       später größte Dynamitfabrik Europas errichtet, während des Zweiten
       Weltkriegs mussten dort Zwangsarbeiter Munition herstellen – in einem
       Kernreaktor zu forschen begann, waren auch Wissenschaftler aus dem
       Atombomben-Projekt Hitlers beteiligt. Am Krümmel lief 1964 das
       atomkraftbetriebene Frachtschiff „Otto Hahn“ vom Stapel. Zivilen Strom
       lieferte in der BRD erstmals das Versuchskraftwerk Kahl. Im gleichen Jahr
       wurde in der Sowjetunion die Zar-Bombe testgezündet, 4.000 mal stärker als
       die Bombe von Hiroshima war sie.
       
       So haben sich Atomkraftwerke mit der ikonischen Kuppel und den monumentalen
       Kühltürmen immer auch als Ort der atomaren Bedrohung ins allgemeine
       Bewusstsein eingebrannt. Filmarchitekt Ken Adams ließ um 1963 das
       Set-Design für den War Room in Stanley Kubricks „Dr. Strangelove“ als
       dreieckigen Bunkerraum eben auch wie eine Reaktorzentrale aussehen. Von
       hier aus richtet Dr. Strangelove über die Welt.
       
       Wenn Wladimir Putin während des Angriffskriegs in der Ukraine das größte
       Atomkraftwerk des Landes, Saporischschja, besetzen lässt, so geht es
       womöglich auch darum, einen Ort unter seiner Gewalt zu haben, der auch
       heute mit immenser Zerstörungskraft verbunden wird.
       
       ## Schauplätze des Widerstandes
       
       In Deutschland war es letztlich die Bedrohung für die Umwelt, die eine
       vehemente Anti-AKW-Bewegung hervorbrachte. In den 1970ern wurden die
       meisten AKW-Standorte zu Schauplätzen eines erbitterten Widerstandes. Die
       Großdemonstrationen gegen den Bau eines AKWs in Brokdorf schrieben
       schließlich Demokratiegeschichte. 1985 nahm ein Grundsatzbeschluss des
       Bundesverfassungsgerichts die friedlichen Protestbewegungen in die
       Verfassungsordnung auf. Das Brokdorfer Kraftwerk in seinem Schattenriss,
       meist zusammengesetzt aus Kühlturm und kuppelförmigem Reaktor, wurde zum
       Emblem der Proteste.
       
       Was passiert nun mit den Betonriesen, wenn im April 2023 auch die letzten
       AKWs abgeschaltet werden? Heute, da Abriss eigentlich eine Umweltsünde
       bedeutet? Nur etwa 3 Prozent der Anlagen sind durch radioaktive Strahlung
       kontaminiert, heißt es bei Janke Rentrop und Stefan Rettich. In einem
       durchaus umstrittenen, gut 15 Jahre dauernden Prozess werden diese
       rückgebaut. Der originäre, kerntechnische Teil jedes Kraftwerks, Gerwins
       „Kaaba“, gehört dazu. Doch die ikonischen Kuppeln der Druckwasserreaktoren
       oder der Kühltürme können erhalten bleiben. Als Denkmäler einer dunklen
       militärischen Geschichte wie am Standort Krümmel oder als Erinnerung an
       eine basisdemokratische Protestbewegung wie in Brokdorf. Solch eine
       Umdeutung schlagen nun auch Rentrop und Rettich vor.
       
       ## Wälder auf Betontürmen
       
       Die zurückbleibenden Betonstrukturen lassen aber auch noch viel
       grundsätzlicher über unser Verhältnis zur Natur nachdenken. In Biblis etwa,
       wo sich das AKW-Gelände in der niederrheinischen Tiefebene an einen
       Unesco-Geopark anschließt, könnte es sogleich wieder von Pflanzen und
       Tieren eingenommen werden. Doch der radioaktive Müll strahlt in den
       Schächten über lange Zeit weiter, in Biblis ist seine Lagerung bis 2046
       zugelassen.
       
       Zu einem romantischen Urzustand kann man nicht zurückkehren. Aber man kann
       versuchen, Natur und Menschengemachtes irgendwie zusammenzubringen, im
       Sinne einer Kohabitation, bildlich gedacht: Wälder auf Betontürmen wachsen
       lassen.
       
       2 Jan 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sophie Jung
       
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