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       # taz.de -- In der Eckkneipe: Zuflucht am Tresen
       
       > Für manche Menschen ist das Wirtshaus ihr zweites Wohnzimmer. Für die
       > Gaststätte Behr in Hamburg gilt das bereits seit 80 Jahren.
       
   IMG Bild: Irgendwo zwischen trostlos und geborgen: die Leute an der Theke
       
       Es ist schon dunkel draußen – heute und überhaupt – einige sagen, wir sind
       zwischen den Jahren angekommen. In dieser komischen Zeit ist man gut
       beraten, sich treiben zu lassen. Und genau dazu habe ich mich mit zwei
       Freunden in der Gaststätte Behr in Hamburg-Eimsbüttel eingefunden. Auf
       einem Schild an der Tür steht: „Herrengedeck: Currywurst, Holsten, Korn:
       5,9“.
       
       Die Eingangstür aus dunklem Holz und vergilbten Glasfenstern wirkt
       gleichermaßen royal wie spelunkig. Bereits zwei Schritte in den Laden
       machen allerdings klar: Er ist eher Zweiteres. Urige Holztische, bestückt
       mit vollgestopften Aschenbechern, ergänzen den gut besuchten Kneipentresen.
       Es ist laut, umtriebig und die natürliche Kneipendichte an Zigarettenqualm
       lässt die Augen direkt ein wenig kleiner werden.
       
       Während die am Tresen ins Gespräch Vertieften uns nur eines kurzen Blickes
       würdigen, wird schnell klar: Wir sind hier „die Neuen“. Die Frau, die
       hinter der Theke steht, nickt uns dennoch freundlich in Richtung des
       nächsten freien Tisches. Holzbänke mit grünem Lederüberzug bilden dort eine
       einladende Sitzecke. „Drei Pils, bitte.“ „Kommt.“ [1][Wenn doch alles im
       Leben so einfach wäre.]
       
       ## Gruß aus besseren Tagen
       
       An der Wand neben unserem Tisch ist eine kleine Metallplakette angebracht.
       Darauf sieht man den rauchenden Helmut Schmidt und das Zitat: „Wer die
       Vergangenheit nicht studiert, wird ihre Irrtümer wiederholen.“ Links
       daneben hängt ein vergilbtes Foto der HSV-Mannschaft aus dem Jahr 1986: die
       fast vergessenen goldenen Zeiten.
       
       Davor wird Dart gespielt. Die Gaststätte ist in liegen gebliebenen
       Weihnachtsschmuck gekleidet. An den Fenstern hängen Tannenzweige aus
       Plastik, kleine Discokugeln und von der Decke baumelt ein
       Plastik-Weihnachtsmann mit Leiter.
       
       „So, die drei Pils.“ Als ich das Bier dankend annehme und absetzen will,
       wirft mir die Bedienung einen ermahnenden Blick zu. Stimmt, der Bierdeckel.
       Darauf legt die Barfrau, die Elke heißt, großen Wert. Egal wie chaotisch es
       zugeht, auch das sogenannte Pilsdeckchen, was als Tropfenfänger den
       Stielfuß des Bierglases ziert, darf nicht fehlen. Wie sähe das denn sonst
       aus? Was anderswo schnell spießig ist, wirkt an diesem Ort wie eine schöne
       Tradition: etwas Ordnung im Chaos.
       
       Direkt neben dem Bartresen hängt ein Metallkasten mit vielen Namen und
       kleinen Schlitzen: ein sogenannter Sparschrank. Früher wurde er genutzt,
       damit die Stammkundschaft dort gemeinschaftlich sparen kann. Am Ende des
       Jahres wurde dann alles ausbezahlt: „Kneipenrente“. Heute funktioniert das
       nicht mehr, [2][sparen kann ja kaum noch jemand.]
       
       Das Geld wurde meistens für eine Party verwendet. Die findet nun aber auch
       ohne Erspartes statt: Ein kleiner Zettel an dem alten Sparkasten wirbt
       dafür: „Bingo-Abend an jedem zweiten Samstag im Monat“. Man kann sich sogar
       für ein gemeinsames Essen anmelden.
       
       Es entsteht das Gefühl, dass hier alle sehr vertraut miteinander sind.
       Regelmäßig kommen neue Gäst*innen, die mit Vornamen begrüßt werden.
       Freundschaftliche Umarmungen und neckische Witze bestätigen den Eindruck.
       
       ## Es weihnachtet sehr
       
       In den achtzig Jahren des Bestehens hat sich offenbar nur die recht neue
       Außenfassade der Gaststätte Behr verändert, wodurch das gesamte Ensemble
       etwas anachronistisch wirkt.
       
       Aus einer alten Jukebox ertönen Weihnachtslieder und die Ersten fangen auch
       schon an zu schunkeln. Der Ort wirkt plötzlich nicht nur sehr
       weihnachtlich, sondern auch insgesamt sonderbar vertraut. Gerade in der
       Weihnachtszeit sind viele Menschen einsam und auf der Suche nach einer
       Gemeinschaft. Dass für manche auch eine Gaststätte zum Zufluchtsort werden
       kann, merkt man hier. [3][Kneipenkultur besteht nämlich aus mehr als dem
       Bier], auf das die Deutschen so stolz sind.
       
       Nach einem großen Schluck wippe auch ich im Takt der alten
       Weihnachtskamellen und habe das Gefühl, dass ich hier schon bald nicht mehr
       „der Neue“ bin.
       
       2 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Paul Weinheimer
       
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