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       # taz.de -- Ukrainischer Journalist über den Krieg: „Das System ist die Angst“
       
       > Stanislav Aseyev war in der Ostukraine in einem russischen
       > Foltergefängnis inhaftiert. Ein Gespräch über seine Gefangenschaft und
       > den Krieg.
       
   IMG Bild: Ist als Gast der Stiftung für politisch Verfolgte seit Februar in Hamburg: Stanislav Aseyev
       
       taz: Herr Aseyev, Sie sind im Donbass aufgewachsen. Wie war Ihre Kindheit? 
       
       Stanislav Aseyev: Ich bin in [1][Donezk] geboren. Den Großteil meiner
       Kindheit aber habe ich in der benachbarten Kleinstadt Makijiwka verbracht.
       Es gibt einen großen Unterschied zu Donezk. Dort konzentrierte sich das
       Geschäft, es ist eine sehr reiche und kulturell entwickelte Stadt,
       europäisch orientiert. Makijiwka hat eine andere Psychologie. Es ist noch
       zutiefst [2][sowjetisch geprägt]. Die Zeit ist quasi auf dem Niveau der
       70er, 80er stehengeblieben. Es gibt dort eine riesige Fabrik und Bergwerke.
       Das bestimmt auch die Mentalität der lokalen Bevölkerung. Ich bin also in
       einer Mischung aus dieser sowjetischen Atmosphäre und der Zeit der 90er
       aufgewachsen, als sich alles reorganisiert hat.
       
       Wie würden Sie die Beziehung zwischen Russen und Ukrainern zu dieser Zeit
       beschreiben? 
       
       Damals gab es keine Überlegungen, wer sich als Russe oder Ukrainer
       versteht. Das wurde erst [3][im Jahr 2014 künstlich erschaffen], als man
       sich plötzlich entscheiden musste, ob man zu Russland oder zur Ukraine
       gehören wollte. Die russischen Separatisten haben zu der Zeit eine Wahl
       abgehalten, ob die Gebiete Donezk und Luhansk zu Russland oder zur Ukraine
       gehören. Davor gab es diesen Diskurs gar nicht. Donbass war ein sehr
       multinationales Gebiet, es gab Russen, Ukrainer, Juden, Griechen, Armenier.
       
       Identifizieren Sie sich mit einer Nationalität? 
       
       Ich identifiziere mich als Ukrainer. Das war auch ausschlaggebend für meine
       Wahl 2014. Ich denke auch, dass meine Ausbildung hier eine Rolle gespielt
       hat. Ich habe 2012 mein Masterstudium in Donezk abgeschlossen. Wir hatten
       eine äußerst pro-ukrainische Universität, an der die ukrainische Sprache
       Tradition hatte. Wahrscheinlich hat das eine große Rolle gespielt, dass ich
       mich 2014 so entschieden habe.
       
       Warum hat sich in Ihren Augen die Situation so drastisch geändert? 
       
       Diese Frage stellt sich mir immer wieder. Tatsächlich hat nach dem
       Zusammenbruch der Sowjetunion die Mehrheit dafür gestimmt, dass man das
       Gebiet von Russland abspaltet. 2014 entscheidet sich aber gerade diese
       Generation plötzlich dazu, wieder Teil von Russland zu werden. Mir ist
       unklar, was in den letzten 20 Jahren der ukrainischen Unabhängigkeit
       passiert ist, dass sich ihre Ansichten derart geändert haben. Natürlich
       hängt es damit zusammen, dass Russland die Ängste der Menschen vor einer
       angeblichen Übermacht der ukrainischen Sprache und Nazis, die ihnen alles
       verbieten, geschürt hat. Ich glaube, diese Angst hat alles überlagert.
       
       Haben Sie Freunde oder Bekannte, die sich als russisch bezeichnen? 
       
       Ich habe eine Cousine, die auf der [4][Krim] lebt und beim russischen TV
       tätig ist. Sie glaubt, dass wir alle von etwas befreit werden müssen. Es
       ist aber unklar, von was genau. Sie lebt in einer anderen Realität. Meine
       ganze Familie mütterlicherseits befindet sich auf der Krim und unterstützt
       Russland. Und auch viele Bekannte, mit denen ich in Makijiwka aufgewachsen
       bin, sind für Russland in den Krieg gezogen. Ich kenne viele Menschen, die
       Russland unterstützen. Ich rede nicht mehr mit ihnen und habe den Kontakt
       abgebrochen.
       
       Als der Krieg 2014 losging, wie haben Sie ihn erlebt? 
       
       Das kann man schwer in einem Satz beschreiben. 2014 stand der [5][Donbass]
       unter massivem Beschuss. Es war eine harte Phase des Krieges. Es gab keine
       Heizung im Winter und auch kein Wasser. Ab 2015 wurde es etwas einfacher
       und 2016 noch einfacher, weil die Intensität der Kämpfe abnahm. Im Jahr
       2017 kam es dann zu Kämpfen in den Außenbezirken der Städte. In dem Jahr
       wurde ich gefangen genommen.
       
       Wie ist die Verhaftung abgelaufen? 
       
       Ich wurde von ehemaligen Polizisten des ukrainischen Sicherheitsdienstes
       verhaftet. Sie sind 2014 zu Russland übergelaufen und unterstehen nun dem
       Föderalen Sicherheitsdienst Russlands. Ich war im Zentrum von Donezk und
       habe dort für [6][Radio Liberty] berichtet. Zuerst wurde ich von der
       Polizei angehalten und dann tauchten Leute in Zivil auf. Sie zogen mir eine
       Tüte über den Kopf, legten mir Handschellen an und brachten mich zum
       Ministerium.
       
       Sie meinen das Foltergefängnis „Isoljazija“? 
       
       In die Isoljazija wurde ich nach anderthalb Jahren verlegt. In diesem
       modernen russischen Konzentrationslager habe ich die meiste Zeit meiner
       Gefangenschaft verbracht. Das waren knapp zwei Jahre. Dann wurde ich in
       eine normale Strafkolonie verlegt, aus der ich am 14. Dezember 2019
       entlassen wurde.
       
       Können Sie etwas über Ihre Erlebnisse in Gefangenschaft erzählen? 
       
       Es ist eine ganz besondere Erfahrung. In der Isoljazija ist die Angst das
       System. Es wird einem beigebracht, Angst zu haben. Darin besteht die
       tägliche Praxis. Die Verwaltung macht das sehr professionell. Während eines
       Verhörs muss man Fragen schnell beantworten. Wenn man zu langsam ist,
       bekommt man einen Stromschlag. Während solcher Befragungen überwiegt das
       Gefühl des emotionalen Schocks. 99 Prozent der Menschen, die in dieses
       System geraten, werden durch einen Stromschlag getötet.
       
       Wurden Sie auch durch Elektroschocks gefoltert? 
       
       Ja, ich bin da keine Ausnahme. Beinahe hätte ich mit allem abgeschlossen.
       Ich wurde auch immer wieder geschlagen. Schläge sind dort völlig normal. An
       diesem Ort beginnt die Folter erst mit Elektroschocks. Menschen werden dort
       rund um die Uhr gequält, tagein, tagaus.
       
       In Ihrem Buch [7][„Heller Weg – Geschichte eines Konzentrationslagers im
       Donbass 2017–2019“], das Sie in Hamburg vorstellen, erzählen Sie davon. 
       
       Mein Programm besteht aus zwei Dingen. Das erste ist das Buch, in dem ich
       über meine Erfahrungen in Gefangenschaft berichte. Es wurde in eine Reihe
       von Sprachen übersetzt, darunter auch ins Deutsche. Der zweite Punkt ist
       die Vorstellung meiner Initiative [8][„Justice Initiative Fund“] (JIF) zur
       Suche von Kriegsverbrechern, eine Website, die ich im September
       eingerichtet habe.
       
       Wie funktioniert eine solche privat organisierte Suche? 
       
       Wir arbeiten mit Informationen über Personen, die bereits durch ukrainische
       und internationale Sicherheitsbehörden identifiziert worden sind, und
       bieten dafür eine Belohnung an. Dies ist etwas, was keine Organisation oder
       staatliche Stelle in der Ukraine tut. Es ist wichtig, solche Personen auf
       unsere Website zu stellen, weil ohne unsere Arbeit die ukrainische Justiz –
       und auch die internationalen Gerichte – leer ausgehen würden. Die JIF ist
       das fehlende Glied im Justizsystem für Kriegsverbrechen. Sie ermöglicht,
       einen Verdächtigen physisch vor Gericht zu stellen, anstatt ihn einfach in
       Abwesenheit zu verurteilen. Die Russen, die sich Menschenrechtsverletzungen
       in der Ukraine schuldig gemacht haben, müssen begreifen, dass sie sich
       nirgendwo vor der Verantwortung verstecken können. Auch nicht in Russland.
       Auch wenn sie erst in einem oder in fünf Jahren gefasst werden – sie werden
       gefunden und für jedes Verbrechen zur Rechenschaft gezogen.
       
       Wie schätzen Sie die Chance ein, dass nach einem Ende des Krieges zwischen
       Russen und Ukrainern eine freundschaftliche Beziehung wieder möglich ist? 
       
       In den nächsten 10 Jahren halte ich es für unwahrscheinlich, dass die
       Beziehungen zu Russland wiederhergestellt werden. Dafür hat Russland der
       Ukraine zu viel angetan und tut es noch. Es ist jetzt alles, was in
       irgendeiner Weise mit Russland zu tun hat, in der Ukraine tabu. Es wird
       sofort negativ assoziiert, angefangen bei der Sprache bis hin zur Kultur.
       
       Was denken Sie, wie der Krieg ausgehen wird? 
       
       Ich sehe weder für Russland noch für die Ukraine einen Ausweg. Für Russland
       ist klar, dass es kein Weg zurück gibt. Aber wenn ukrainische Truppen die
       Grenze der Krim erreichen, habe ich Angst, dass dies für Putin eine rote
       Linie überschreitet und er Atomwaffen einsetzen wird. Er wird nicht
       zulassen, dass ukrainischen Streitkräfte die Krim zurückerobern. Ich sehe
       in dieser Situation keine Chance für Verhandlungen.
       
       24 Feb 2023
       
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       ## AUTOREN
       
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