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       # taz.de -- Schrottfahrräder in Berlin: Wiedergeburt der Radleichen
       
       > Jedes Jahr rosten tausende Fahrräder am Straßenrand ihrem Ende entgegen.
       > Wenn sie Glück haben, schenkt ihnen eine Werkstatt ein zweites Leben.
       
   IMG Bild: Reinkarnation für schrottige Zweiräder ist möglich in der Werkstatt der agens Sozialbetriebe
       
       Berlin taz | Torsten Rauninger* zuckt mit den Achseln: „Kein einziges mehr
       da.“ Der Mitarbeiter der agens Sozialbetriebe gGmbH und sein Kollege sind
       an diesem Freitagmorgen ganz umsonst von Kreuzberg zum S-Bahnhof Pankow
       gefahren. Hier sollten sie eigentlich ein gutes Dutzend sogenannter
       Schrottfahrräder einsammeln, die zwei Wochen zuvor mit einer Banderole
       gekennzeichnet wurden. Jetzt sind sie nicht mehr aufzufinden.
       
       „Das kann jetzt mehrere Gründe haben“, mutmaßt Rauninger. „Entweder jemand
       hat die Markierungen als eine Art Streich abgerissen“. Oder aber Leute
       hätten die Räder geknackt – „nach dem Motto: Die will ja eh keiner haben.“
       Dass tatsächlich die EigentümerInnen ihre Velos abgeholt haben, hält er für
       unwahrscheinlich. Schließlich blieben die meisten dieser Fahrzeuge lange
       völlig unangetastet, viele Teile seien komplett durchgerostet.
       
       Wenn die agens-Leute auf ihrer Einsammeltour fündig werden, geht es im
       Übrigen ganz schnell: Mit einem Akku-Trennschleifer werden die Schlösser,
       meist ohnehin keine High-Tech-Ware, innerhalb von Sekunden geöffnet. „Wir
       tragen Warnwesten und haben ein Dokument dabei, das uns als berechtigt
       ausweist“, sagt Rauninger. Meist sähen die PassantInnen aber auf Anhieb,
       dass sie es nicht mit einem geschickt verbrämten Klau zu tun hätten: Nichts
       von dem, was eingesammelt werde, sei auch nur fahrtüchtig.
       
       Das ändert sich aber: Nach zwei weiteren Wochen Lagerung im zweiten
       Hinterhof an der Ohlauer Straße sind die Rahmennummern – so vorhanden – von
       der Polizei auf Diebstahlanzeigen geprüft worden. Nach Freigabe zerlegen
       die MechanikerInnen der agens-Werkstatt sie in ihre Einzelteile, bereiten
       diese auf und fügen sie wieder zusammen. Das Ergebnis: [1][funktionale
       Fahrräder oft gemischten Ursprungs und mit Vintage-Feeling], zu Preisen
       zwischen 100 und 200 Euro und mit einjähriger Garantie. Weil am Ende des
       Upcyclings mehr Einzelteile als komplette Räder übrigbleiben, stehen auch
       Gabeln, Rahmen und sogar kleine Kunstwerke aus Ketten oder Speichen zum
       Verkauf.
       
       ## Unerschöpfliches Rohmaterial
       
       „Wir sind auch auf dem Fahrradmarkt an der Oberbaumbrücke präsent“, sagt
       Leonie Buttgereit von der Geschäftsführung, „da geht vieles weg.“ Die
       Werkstatt mit dem Verkaufsraum, die auch gebrauchte Fahrräder als Spende
       annimmt, sei seit Januar in Betrieb, so Buttgereit. Die agens
       Sozialbetriebe gGmbH, die Langzeitarbeitslose anstellt, um sie zum Sprung
       in den Arbeitsmarkt zu befähigen, ist berlinweit tätig – die Filiale in der
       Ohlauer Straße, deren Angestellte auch Parkbänke reparieren oder Wohnungen
       renovieren, erhält eine gesonderte Förderung durch die Senatsverwaltung für
       Integration, Arbeit und Soziales im Rahmen des Projekts „Soziale Betriebe
       2.0“.
       
       Das Rohmaterial für die Fahrradwerkstatt scheint in Berlin fast
       unerschöpflich zu sein. Gut für die MechanikerInnen, nicht so gut für die
       Stadt und ihre Radfahrenden, denn Schrotträder oder „Fahrradleichen“ sind
       stellenweise eine echte Plage. Von ihren BesitzerInnen aufgegeben oder
       vergessen, müllen sie Abstellbügel zu und nehmen anderen den Raum. Auch das
       ohnehin prekäre Sicherheitsgefühl in Bezug auf Zweirad-Eigentum nimmt nicht
       unbedingt zu, wenn man sein Rad zwischen rostige Trümmer klemmen muss, aus
       deren geplatzten Satteln das Gel quillt.
       
       Die Gründe für das hohe Aufkommen sind unerforscht. Vielleicht ist
       Bequemlichkeit vieler BerlinerInnen daran schuld, dass sie bei Anschaffung
       eines neuen, besseren Rads – die Verkaufszahlen erreichen seit Jahren
       Rekordhöhen – das alte irgendwo seinem Schicksal überlassen. Zumal, wenn
       man es mit einem oder zwei platten Reifen erst einmal nach Hause oder in
       die Werkstatt schieben müsste.
       
       ## Flickenteppich der Zuständigkeit
       
       Bei der Frage, wer sich um die Leichen auf Rädern kümmert, tut sich ein
       Flickenteppich auf. Im öffentlichen Straßenland sind die bezirklichen
       Ordnungsämter zuständig, aber auch die handhaben das Problem
       unterschiedlich. Das in Mitte kooperiert seit einigen Jahren mit der
       gemeinnützigen Goldnetz GmbH. Deren Projekt „Good Bikes“ sammelt die Räder
       ein, die das Amt zuvor markiert hat – im laufenden Jahr schon an die 800
       Stück –, arbeitet sie nach Möglichkeit auf und gibt sie dann kostenlos ab.
       In Neukölln – Ausbeute im laufenden Jahr: bislang 500 Stück, nach
       geringeren Zahlen während der ersten Pandemiejahre – gehen die Räder an
       Vereine oder wandern auf den Recyclinghof.
       
       Mehrere Bezirke teilten der taz mit, dass ihre Kapazitäten gerade in
       Coronazeiten kaum ausreichen, um sich des Problems anzunehmen. „Die größte
       Schwierigkeit ist es, Personal für die Kennzeichnung der Schrotträder
       bereitzustellen, ebenso wie für die nach zwei Wochen folgende Kontrolle“,
       sagt Urban Aykal, Stadtrat in Steglitz-Zehlendorf. Derzeit werde man durch
       Teilnehmende an einer „Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung“ –
       sogenannte Ein-Euro-Jobber – unterstützt. Und Pankow sucht nach
       „gemeinnützigen Verwertungsträgern und Entsorgungsunternehmen“, um den
       derzeitigen Rhythmus von vier bis sechs Sammelaktionen im Jahr zu erhöhen.
       
       Die Räder, die in der agens-Werkstatt landen, stammen von Abstellanlagen an
       insgesamt 33 Bahnhöfen der DB und ihrer Tochtergesellschaft S-Bahn Berlin.
       Allerdings werden diese Anlagen von der öffentlichen Hand finanziert und
       betrieben – deshalb liegt die Zuständigkeit bei der infraVelo, der
       landeseigenen Gesellschaft für Fahrrad-Infrastruktur, die auch Radstreifen
       grün färbt und Radschnellwege plant. Sie überträgt die Abwicklung der
       Aufgabe an die gemeinnützigen Sozialbetriebe.
       
       Noch einmal anders verhält es sich, wenn die Räder auf Bahn- bzw.
       S-Bahn-Anlagen stehen, die vom Konzern selbst gemanagt werden. Hier macht
       die DB nach Angaben eines Sprechers kurzen Prozess: „Eindeutig nicht mehr
       gebrauchstaugliche Räder werden als Abfall behandelt und entsorgt“, teilt
       dieser auf Anfrage mit. Darum kümmere sich die Hauptwerkstatt der S-Bahn
       GmbH, sie komme im Jahr auf rund 200 Schrottfahrräder. Kostenpunkt pro
       Stück: „einschließlich An- und Abfahrt 45 Euro“.
       
       ## Und die Radparkhäuser?
       
       Hier, an der Schnittstelle von Stadt und Schiene – im Außenbereich
       wichtiger Bahnhöfe – sollen übrigens schon seit Längerem sichere und
       wettergeschützte Abstellanlagen für Velos entstehen. Diese
       Fahrradparkhäuser müssten laut Berliner Mobilitätsgesetz eigentlich bis
       Mitte 2023 fertig sein, aber Land, Bahn und Bezirke verheddern sich in
       langwierigen Planungsprozessen: „Leider können zum jetzigen Stand der
       Projektentwicklung keine Termine für die Inbetriebnahmen genannt werden“,
       teilt eine Sprecherin der Senatsverwaltung für Mobilität mit.
       
       Am weitesten sei man beim Fahrradparkhaus für den Bahnhof Ostkreuz
       vorangekommen. Das Gebäude mit 2.000 Stellplätzen, Schließfächern,
       Lademöglichkeiten und einer Fahrradwerkstatt wird [2][von der infraVelo auf
       dem nordwestlichen Vorplatz gebaut]. Im 1. Quartal 2024 soll nach einem bis
       dahin erfolgten Wettbewerb immerhin schon einmal die „Planleistung“
       vergeben werden. Davon ist man etwa am Hauptbahnhof noch weit entfernt:
       Hier laufen zurzeit „Abstimmungen für eine mögliche
       Machbarkeitsuntersuchung“.
       
       * Name von der Redaktion geändert
       
       13 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.agens-sozialbetriebe.de/upcycling-unsere-fahrradwerkstatt
   DIR [2] https://www.infravelo.de/projekt/fahrradparkhaus-am-bahnhof-ostkreuz/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claudius Prößer
       
       ## TAGS
       
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