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       # taz.de -- Junge Musikszene von Wales: Popularitätsschub für Zungenbrecher
       
       > Pop aus Wales ist selbstbewusster und gefragter als früher. Die
       > Musikszene der britischen Region steht für die Autonomie des Landesteils.
       
   IMG Bild: Machen sich über konservative alte Männer lustig: Casper und Chris von der queeren Band Telgate
       
       Die neue Single der walisischen Band Telgate wird „Gammon“ heißen. Das
       englische Wort bedeutet übersetzt „Schinken“, ist aber auch eine abfällige
       Bezeichnung für ältere, konservative Männer.
       
       „Eigentlich wollten wir den Song an dem Tag rausbringen, an dem
       Premierminister Boris Johnson sein Amt niederlegt“, erzählt Casper, Sänger
       der queeren Glamrock-Band. Er sitzt mit seiner Gitarristin Chris, einer
       Transfrau, in einem Café in der Innenstadt von Cardiff. „Aber Johnsons
       Rücktritt kam ja relativ überraschend. Auch der seiner Nachfolgerin. Und
       dann ist auch noch die Queen gestorben. Wir wollten zwar Staub aufwirbeln,
       aber das wäre vielleicht doch etwas viel gewesen.“
       
       Casper wird selbst auf dem Cover von „Gammon“ zu sehen sein, nackt, mit
       einem brennenden Union Jack. „Meine Oma hat mich angefleht, das nicht zu
       tun. Sie meinte, das würde meine Karriere ruinieren.“ Beide müssen laut
       lachen. „Ich denke, wenn meine Oma so reagiert, sind wir auf dem richtigen
       Weg.“ Casper und Chris sind beide 20, aufgewachsen sind sie in Kleinstädten
       im ländlichen Wales.
       
       In Cardiff spüren sie den Rückenwind einer explodierenden regionalen
       Musikszene, die immer mehr für Aufmerksamkeit sorgt. Als das junge
       Bluesrock-Duo Alffa aus Nordwales 2018 mit seinem Song „Gwenwyn“ eine
       Million Streams auf Spotify erreichte, hat das in ganz Großbritannien für
       Schlagzeilen gesorgt. Es war das erste Mal, dass ein walisischsprachiger
       Song diese Marke geknackt hat. Interessant dabei ist, dass ein Großteil der
       Abrufe aus Brasilien und Mexiko stammt – der Song hat offenbar vor allem
       dort musikalisch überzeugt.
       
       Wales hat abseits seiner Zentren Cardiff, Swansea und Newport im Süden
       stets [1][zu den ärmsten Landesteilen des Vereinigten Königreichs] gehört.
       Das kleine Land mit etwas mehr als drei Millionen Einwohner*innen zeigt
       sich immer wieder dankbar für Gelegenheiten, auf etwas stolz zu sein. Im
       Jahr 2000 landete die Band Super Furry Animals mit ihrem
       walisischsprachigen Album „Mwng“ auf Platz elf der britischen Albumcharts.
       
       Ein Abgeordneter der walisischen Unabhängigkeitspartei Plaid Cymru nannte
       das Album damals eine Feier eines „neuen Selbstbewusstseins der walisischen
       Nation“. [2][Super-Furry-Animals-Sänger Gruff Rhys] wehrte sich jedoch
       vehement gegen diese Vereinnahmung und betonte, dass es sich um sehr
       persönliche Musik handele.
       
       ## Bei der WM zur Hymne gemachter Folksong
       
       Einen Popularitätsschub bekam die walisischsprachige Musik auch, als sich
       die Nationalmannschaft des drei Millionen Einwohner*innen großen Landes
       dieses Jahr erstmals seit 1958 für die Fußball-WM in Katar qualifizieren
       konnte.
       
       Das erzählt Antwn Owen-Hicks, der beim walisischen Arts Council für
       Musikförderung zuständig ist: „Kennen Sie den walisischen Folksänger Dafydd
       Iwan? Er hat den ikonischen Song ‚Yma O Hyd‘ (Wir sind noch hier),
       komponiert. Das Fußballteam und seine Fans haben ihn zur Hymne gemacht, und
       dann hat Sage Todz, ein schwarzer Rapper aus Nordwales, auch noch einen
       erfolgreichen Remix davon veröffentlicht.“
       
       Antwn sitzt beim Interview im hochmodernen Neubau der BBC Wales, der vor
       wenigen Jahren in der Innenstadt von Cardiff eröffnet wurde, direkt am
       Bahnhof. Neben ihm Bethan Elfyn. Die Moderatorin ist bei BBC Radio One
       verantwortlich für die Sendung „Horizons“, in der sie junge walisische
       Musiker*innen vorstellt. Bethan sieht in der regionalen Kultur
       insgesamt einen Bruch, da während der Pandemie zweimal „Eistedfodd“
       ausgefallen ist. Das traditionelle Festival walisischer Kultur findet in
       der Regel in der ersten Augustwoche in wechselnden Städten statt, mit rund
       150.000 Besucher*innen.
       
       „Hier erleben Teenager ihre Freiheit und kommen dabei mit der lokalen Musik
       in Kontakt. Zwei Jahre ohne das Eistedfodd bedeutet, dass einer ganzen
       Generation ein Teil dieser Erfahrung fehlt.“ Kaum am Eistedfodd vertreten
       ist allerdings, wie es hier genannt wird, Music of Black Origin, kurz Mobo.
       Sie hat aber vielleicht sogar von der Pandemie profitiert, glaubt Bethan:
       „Die Mobo-Szene in Wales ist in den letzten Jahren stark gewachsen.
       Selbstbewusstsein, Produktivität und Sichtbarkeit dieser Musikszene haben
       sicher auch davon profitiert, dass es um Rockmusik stiller wurde, als
       Tourneen in der Pandemie nicht möglich waren.“
       
       Wie viele andere Gatekeeper*innen habe auch sie diese Musik lange
       vernachlässigt. Antwn ergänzt: „Wir haben tatsächlich eine ganze neue
       Generation afro-walisischsprachiger Rapper- und Künstler*innen, die selbst
       hier kaum wahrgenommen wurden. Die Leute aus dieser Szene haben sich
       gegenseitig enorm unterstützt. Nur so kann es funktionieren, dass man sich
       gegen die Musikindustrie in London durchsetzt.“
       
       ## Cymru ist der walisische Name für Wales
       
       In den 1990ern wurde der walisischen Musikszene schmerzhaft bewusst, wie
       abhängig sie von London ist: Durch Bands wie [3][Super Furry Animals],
       [4][Manic Street Preachers] und Gorky’s Zygotic Mynci war Musik aus Wales
       so erfolgreich, dass, als Gegenentwurf zu „Cool Britannia“, „Cool Cymru“
       ausgerufen wurde – „Cymru“, sprich „Kamri“, ist der walisische Name für
       Wales. Alle walisischen Bands hatten damals Verträge mit Labels in London,
       weshalb auch der Großteil des Geldes dorthin geflossen ist.
       
       Das zu ändern war Huw Williams angetreten, der als Sänger der Band The Pooh
       Sticks einer der ganz wenigen walisischen Bands angehörte, die schon Ende
       der achtziger Jahre international Erfolg hatte. Williams gründete 1999 auch
       die „Welsh Music Foundation“, die sich zum Ziel gesetzt hatte, in der
       Region den Aufbau einer nachhaltigen Musikinfrastruktur zu unterstützen,
       mit staatlicher Unterstützung. Heute kümmert sich der Arts Council, das
       walisische Kultusministerium, um solcherlei Förderung.
       
       Huw stellt als Fußball- und Rugbyfan fest, dass sich einiges in Wales zum
       Guten verändert hat: „Wenn vor 20 Jahren Wales gegen England im Rugby
       angetreten ist, haben sich die Fans von Swansea City mit denen von Cardiff
       City auf den Rängen geprügelt. Heute sind im Fußball alle vereint und
       singen gemeinsam „Yma O Hyd“. Aber das hat natürlich auch einen
       nationalistischen Einschlag, der mir nicht geheuer ist. Es geht viel um
       Identität.“
       
       ## Walisisch oft als Abgrenzung gegenüber England
       
       Ein Interviewpartner, der namentlich nicht genannt werden will, erzählt,
       ihm werde immer wieder abgesprochen, ein „echter“ Waliser zu sein, weil er
       die Sprache nicht spricht. Er ist in Wales geboren und aufgewachsen, sein
       Vater war walisischer Muttersprachler. Nur etwa 20 Prozent der Bevölkerung
       sprechen Walisisch, der Anteil in neuen Popmusikproduktionen dürfte
       deutlich höher sein.
       
       Aber bei weitem nicht alle interessante neue Musik ist auf Walisisch
       gesungen. Und gerade für den Nachwuchs bedeutet die Verwendung des
       Walisischen oft vor allem eine Abgrenzung gegenüber dem dominanten England.
       Den Gedanken an ein unabhängiges Wales, das noch in weiter Ferne liegt,
       verbinden sie mit der Hoffnung, wieder Teil der EU zu werden.
       
       Auch die junge Musikerin Cerys Hafana hat ihre Probleme mit
       Traditionalist*innen. Sie ist in England geboren, Walisisch hat sie in der
       Schule gelernt, nachdem ihre Eltern mit ihr nach Machynlleth in Westwales
       gezogen sind. Sie spielt die Triple Harp, eine Harfe mit drei parallelen
       Reihen von Saiten, die als das walisische Nationalinstrument gilt. Im
       Herbst ist ihr großartiges Album „Edyf“ erschienen, für das sie vergessene
       walisische Folksongs ausgegraben und neu interpretiert hat. Traditionelles
       Harfenspiel hat sie gelernt, allerdings spielt sie das Instrument auf ihre
       eigene Weise.
       
       „Man wirft mir vor, ich würde die Tradition verfälschen!“, erzählt Cerys.
       „Im 15. Jahrhundert klang walisische Musik vollkommen anders als im 18.,
       und heute ist es auch wieder anders. Ich verstehe nicht, warum man meine
       Musik der gesamten Tradition gegenüberstellt, als sei das eine starre
       Angelegenheit. Aber wenn man so etwas laut sagt, bekommt man gleich Ärger.“
       
       Die 21-Jährige, die mit ihrem blondierten Kurzhaarschnitt eher wie ein Punk
       als wie eine Harfenistin aussieht, lacht: „In der walisischen
       Folk-Community hassen sich alle gegenseitig. Das weiß ich schon, seit ich
       elf bin. Streitereien um die Tradition sind längst selbst Teil davon.“
       
       ## Pionierarbeit auf Kleinstlabels
       
       Bemerkenswerter als Streamingrekorde sind die schiere Menge und die
       Vielfalt der Musik, die derzeit aus Wales kommt. Die Musikszene ist extrem
       jung, und sie ist sehr idealistisch: Die meisten Künstler*innen leisten
       Pionierarbeit und veröffentlichen auf Kleinstlabels, von denen sich in den
       letzten Jahren einige Dutzend in Wales gegründet haben. Und diese
       Peripherieposition lässt sie oft einen anderen Blick auf die Welt
       formulieren, als es Musik aus den kulturellen Zentren Großbritanniens tut.
       
       Wie Telgate aus Cardiff, die sich bewusst dagegen entschieden haben, sich
       einer blühenden Großstadt-Musikszene anzuschließen. Und damit auch über die
       Musik hinaus etwas verändern: „Unsere Präsenz hilft dabei, dass Menschen
       wie wir in der lokalen Musikszene mehr akzeptiert werden. Und wir
       veranstalten auch Talkrunden, in denen wir die Rechte von trans Menschen
       thematisieren.“
       
       Casper hat seine eigene Organisation „Transform Cymru“ gegründet, mit der
       er über Hassverbrechen an queeren Menschen aufklärt. Demnächst möchte er
       mit Chris Empfehlungen an alle walisischen Musikclubs schicken, wie sie
       sicherer und offener für trans Menschen werden können.
       
       16 Dec 2022
       
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