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       # taz.de -- Rechtsextreme Terrorserie in Neukölln: Freispruch für Neonazi
       
       > Tilo P. wird vom Vorwurf mehrerer Auto-Brandstiftungen freigesprochen –
       > trotz vieler Indizien. Gegen Sebastian T. wird der Prozess fortgesetzt.
       
   IMG Bild: Prozessauftakt im August
       
       Berlin taz | Der Neuköllner Neonazi Tilo P. ist vom [1][Amtsgericht
       Tiergarten vom Vorwurf der Brandstiftungen] an den Autos des
       Linken-Politikers Ferat Kocak und des Buchhändlers Heinz Ostermann in der
       Nacht zum 1. Februar 2018 freigesprochen worden. Verurteilt wurde er
       lediglich zu einer Geldstrafe von 150 Tagessetzen à 30 Euro für acht
       Propagandadelikte im Rahmen einer Kampagne für den Hitler-Stellvertreter
       Rudolf Heß. Sein Haftbefehl ist aufgehoben; P. verließ den Gerichtssaal am
       Donnerstagabend als freier Mann. Gegen den Mitangeklagten Sebastian T. wird
       der Prozess im Januar fortgesetzt.
       
       Laut der Richterin konnte sich das Gericht von der Schuld des Angeklagten
       „nicht mit der erforderlichen Sicherheit überzeugen“, obwohl die zehn
       Prozesstage das Ausspähen seiner politischen Gegner, seine lange
       Beschäftigung mit der Person Ferat Kocak und seine rechtsextreme Gesinnung
       bewiesen hätten.
       
       Die Generalstaatsanwaltschaft hatte zuvor in einem zweieinhalbstündigem
       Plädoyer eine Verurteilung von P. wegen Beihilfe zu den Brandstiftungen
       gefordert. Zusammengenommen mit einer [2][Verurteilung Ende vergangen
       Jahres wegen eines Angriffs auf einen Taxifahrer] und einer Verfolgungsjagd
       in seinem Auto hatte sie eine Gefängnisstrafe von drei Jahren und sechs
       Monaten gefordert.
       
       Die Beweisaufnahme hatte ergeben, dass Tilo P. spätestens ab dem Januar
       2017 konkrete Nachforschungen über Kocak, inzwischen Mitglied des Berliner
       Abgeordnetenhauses, angestellt hatte. In Chats mit Gesinnungsgenossen,
       darunter dem zweiten Hauptverdächtigen der Neuköllner Terrorserie Sebastian
       T., erwähnte P. dessen Namen, er bezeichnete ihn als „Hurensohn“, fragte,
       ob dieser bei einer Sitzung der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung
       (BVV) anwesend sei, gab Informationen über dessen Alter und Familienstand
       weiter, bat um Bilder von einer Anti-Nazi-Demo, auf der Kocak eine Rede
       gehalten hatte.
       
       Zwei Wochen vor der Tat, am 15. Januar 2018, folgte P. dem Politiker nach
       einer Linken-Veranstaltung zu dessen Wohnanschrift und übermittelte Autotyp
       und Kennzeichen des roten Smarts, mit dem Kocak unterwegs war. Am 23.
       Januar zoomte P. mittels Satellitenaufnahmen von Google Maps auf Kocaks
       Einfamilienwohnhaus in Rudow. Eine Woche später, in der Nacht zum 1.
       Februar um 2.55 Uhr, wurde dort das vor das Garage abgestellte Auto in
       Brand gesteckt. Nur durch Glück griffen die Flammen nicht auf die
       Gasleitung des Hauses über.
       
       Etwa eine Viertelstunde vorher ging auch das Auto von Heinz Ostermann in
       Flammen auf. Der Inhaber der Buchhandlung Leporello stand bei Nazis schon
       länger im Fokus, weil er sich nach dem erstmaligen Einzug der AfD in die
       BVV 2016 gegen die Normalisierung des Rechtsextremismus engagierte. In
       dieser Zeit schon tauschte sich P. mit einem Kameraden per Mail über eine
       Veranstaltung in der Buchhandlung aus. Später wurden die Scheiben der
       Buchhandlung eingeworfen und ein erstes Auto von Ostermann angezündet.
       
       ## Nur Schmiere gestanden?
       
       So gut die Tatvorbereitungen belegt sind, so sehr das Motiv, den
       politischen Gegnern im Bezirk zu schaden, außer Frage steht – am Ende
       fehlte der finale Beweis dafür, dass P. in dieser Nacht die Autos in Brand
       steckte. Oder dabei zumindest „Schmiere gestanden“ habe, wie er bei seinem
       letzten Gefängnisaufenthalt zu einem weiteren Neonazi-Gefangenen gesagt
       haben soll.
       
       [3][Nebenkläger-Anwältin Franziska Nedelmann] kritisierte in ihrem Plädoyer
       das mangelnde Interesse des Gerichts, die Personenzusammenhänge um die
       beiden Hauptangeklagten aufzuklären. Der gesamte Neukölln-Komplex mit
       mindestens 23 Brandanschlägen und 50 weiteren Straftätern zwischen 2012 und
       2018 sei auf zwei Einzeltäter reduziert worden. Ihrer Überzeugung nach
       seien sie Taten „nicht von isolierten Einzeltätern verübt“ worden. Das
       Gericht habe die Chance vertan, verlorengegangenes „Vertrauen in
       staatliches Handeln wieder herzustellen“.
       
       In einer Mitteilung sagte Kocak: „Für mich wirkt dieses ganze Verfahren wie
       eine Farce. Als wäre diese Anklage nur erhoben worden, damit überhaupt
       irgendetwas passiert, ganz egal, was dann dabei herauskommt.“ Kocak
       kritisierte ebenso die Aufklärung des Netzwerks und fügte an: „Unsere Angst
       bleibt also weiter bestehen, und wir werden weiter für Aufklärung kämpfen.
       Kein Schlussstrich!“
       
       ## Verbindungen zwischen Polizei und Neonazis
       
       Nedelmann erinnerte zudem an die vielfältigen Skandale um Verknüpfungen
       zwischen Sicherheitsbehörden und den Neonazis: vom gemeinsamen Aufenthalt
       eines LKA-Beamten und Sebastian T. in einer Kneipe; einer Chatgruppe, in
       der Tilo P., aber auch ein Beamter gewesen waren, oder an die Einschätzung
       von P., dass der vormals leitende Staatsanwalt auf ihrer Seite stehe.
       
       Scharf kritisierte die Anwältin den Berliner Verfassungsschutz, der
       Informationen nur teil- und häppchenweise zur Verfügung stellte und dessen
       Rolle nicht geklärt sei. Laut Nedelmann bestehe die Möglichkeit, dass der
       Brandanschlag auf ihren Mandanten Kocak „unter den Augen des
       Verfassungsschutzes“ stattfand – oder gar „unter seinem Schutz“.
       
       Auch für Sebastian T., der nach der Abtrennung der Verfahren die Plädoyers
       und den Urteilsspruch aus dem Zuschauerraum verfolgte, ist der Freispruch
       ein gutes Zeichen. Womöglich werden auch bei ihm die entscheidenden Beweise
       für die Begehung der Brandstiftungen fehlen. Dabei gibt es gegen ihn noch
       mehr belastende Indizien. So soll Tilo P. etwa zu einem Beamten gesagt
       haben: „Wir wissen doch alle, wer die Brandstiftungen begangen hat. Sie
       wissen es, ich weiß das. Aber keiner kann es T. beweisen.“
       
       15 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Erik Peter
       
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