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       # taz.de -- Wundervoller Freejazz-Improv Lärm: Eskapistischer Noise mit Smiley
       
       > Was knurzt denn da so? Das Album „Belladonna Garnish“ von Riley Walker,
       > Chris Corsano und Andew Scott Young stellt die Improv-Noise-Schraube
       > fester.
       
   IMG Bild: Drei Gestaltphilosophen des ungewöhnlichen Lärms: Young, Corsano und Walker auf der Bühne
       
       Es gab eine Zeit, da beteten eine ganze Reihe Rolling Stone- und
       Mojo-Leser:innen Ryley Walker als neuen Gott des Jazz-getriebenen
       Retro-Singer-Songwritertums an. Sie feierten sein Soloalbum „Primrose
       Green“ (2015) als direkte Fortsetzung von und ebenbürtig zu Van Morrisons
       Meisterwerk „Astral Weeks“ und Tim Buckleys „Lorca“.
       
       Leider ist Walker ein ganz spezieller Fall. „Ich könnte solche Alben nicht
       mehr machen“, verriet er im vergangenen Jahr dem Magazin Seven Days. „Nicht
       aus irgendwelchen tiefen künstlerischen Gründen, sondern einfach, weil es
       mich langweilt. Damals, 2014, war dieser Retro-Folk groß und vom Marketing
       wurde ich als psychedelischer Sixties-Dude verkauft. Das war eine Art
       Pastiche und eine Zeit lang habe ich mich geschämt, dass ich mich als
       Pastiche habe vermarkten lassen.“
       
       Mit stilistischen Einschränkungen welcher Art auch immer kann man dem
       US-Künstler Ryley Walker nicht beikommen. Seine rasend schnell wachsende
       Diskografie zeigt, dass er sich für so gut wie alles begeistern kann,
       weiterhin auch für sophisticated Songs, genauso aber für Noise und Improv.
       
       ## Filigranes Fingerpicking
       
       Filigranes Fingerpicking liebt er genauso wie das Malträtieren von
       E-Gitarren mit Küchengeräten. Und alles dazwischen. Darin geht es ihm
       ähnlich wie Chris Corsano und Andrew Scott Young, seinen Mitverschwörern
       auf dem Album „Belladonna Garnish“. Den Drummer Corsano kennen Sie
       vielleicht von seinen Arbeiten mit Björk, Thurston Moore und Jim O’Rourke,
       auf seinem CV finden sich aber auch Kollaborationen mit Evan Parker, Mette
       Rasmussen und Jandek.
       
       „Schon erstaunlich, seinen Einfluss auf Free-Jazz- und Noise-Drumming auf
       der ganzen Welt zu sehen“, sagt Walker. Andrew Scott Young feiert er
       wiederum als „besten Bassisten der Welt. Wie Victor Wooten. Wenn Victor
       Wooten auch Fan von Peter Kowald wäre.“ Man verzeihe das geballte
       Namedropping in diesem Absatz.
       
       Anfang des Jahres waren die drei zusammen auf Tour und spielten Walkers
       Songs. Um ihre eher wilderen Neigungen zu befriedigen, mietete Walker an
       einem spielfreien Tag schließlich in North Carolina ein Aufnahmestudio und
       los ging’s. Jamming, Noise, alles improvisiert. Am Ende wurden aus dem
       mitgeschnittenen Material fünf instrumentale Tracks zwischen sechs und
       dreizehn Minuten Länge editiert. Purer Stoff: Das knurzt und knarzt, knaakt
       und blaakt, [1][birzelt und firzelt], dass es nur so eine Freude ist.
       
       ## Freunde an Reibegeräuschen
       
       Walker und Young sind offensichtlich vor allem Freunde von Reibegeräuschen,
       Hartes auf Stahl und so. Corsano nimmt rhythmische Teilstücke ihrer Klänge
       auf und baut daraus Strukturen, die dann für eine kurze Zeit im Trio
       konstruktiv ausdifferenziert werden, bis sie einer der drei mit Wonne
       wieder zerschießt. Dabei kommt es nie zu Redundanzen: In jedem der fünf
       Tracks wird ein anderes klangliches Universum besucht.
       
       Nicht immer wird deutlich, welchem Urheber, welcher Instrumentenfamilie und
       welchem musikalischen Bedeutungskreis ein Sound zuzuordnen ist: Kommen
       diese tiefen Kraaks noch aus der Gitarre oder schon aus dem Bass? Sind
       diese Pfeifgeräusche Verstärker-Feedback oder sind sie aus der Zauberkiste
       der Becken-Beherrschung herausgeklettert? Und diese rhythmischen Brumpfstls
       – Drums? Bass? Gitarre? Missbrauch der Mikrofone? Herrlich …
       
       Der offensichtliche Spaß, den die drei Künstler bei dieser
       Geräuscherzeugung haben, gibt dem Album ein Hintergrundrauschen der
       Heiterkeit und Beglückung. Lässt sich der/die Hörer:in darauf ein, nimmt
       den Fahrstuhl hinein in diese vieldimensionalen klanglichen Wimmelbilder,
       schleicht sich unwillkürlich ein Lächeln ins Gesicht. Kein düsterer
       Armaggedon-Krach also, kein Soundtrack zum Zustand des Planeten Erde,
       sondern leicht eskapistischer Noise mit Smiley.
       
       Und als wäre das noch nicht genug Positivismus lässt sich diese Musik aus
       ganz unterschiedlichen Perspektiven genießen, mit ganz unterschiedlichem
       geschmacklichen Background. Anhänger von Jam-Bands dürften hier genauso
       Anknüpfungspunkte finden wie Free-Jazz-Verehrer und Noise-Metal-Adeptinnen,
       die sich allesamt bisher eher argwöhnisch belauert haben. Am Ende liegen
       sich Rolling Stone- und [2][The Wire-Leser] in den Armen. Wem würde das
       nicht Tränen der Rührung aufs Antlitz zaubern?
       
       27 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Detlef Diederichsen
       
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