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       # taz.de -- Album „Girls With Guitars Gonna Shake!“: Geföhnte Außenseiterinnen
       
       > Auf „Girls With Guitars Gonna Shake!“ versammeln sich ungehörte Aufnahmen
       > rockender Teenagermädchen. Die sind professioneller als ihre
       > Jungskollegen.
       
   IMG Bild: Die Band Girls Take Over
       
       Dass verstimmter und primitiver Hörgenuss wahre Entdeckungsfreude
       hervorruft, demonstriert die Reihe der seit Ende der 1990er Jahre
       erschienenen Compilations „Teenage Shutdown“, zusammengestellt von dem in
       Hamburg lebenden US-Sammler Tim Warren für das kleine Label Crypt. Warren
       kuratiert in jeder Episode jeweils ein spezifisches Subgenre des
       Garagenrock der 1960er Jahre. So entstanden so zauberhafte Titel wie
       „She'll Hurt You in the End“.
       
       Und es ist eine wahre Freude, wie der unschuldige Teenager-Schmerz darin
       als brachialer Lärm erklingt. Der schnörkellose und straighte Charme
       simpler Gitarrenakkorde begleitet die infantilen Texte und echten Gefühle
       unbarmherzig.
       
       Die vom Londoner Archäologen-Label Ace zusammengestellte Samplerreihe
       „Girls With Guitars“ steht der von Crypt in nichts nach. Um die
       krachmachenden Frauen aus den 1960ern hör- und sichtbarer zu machen, hat
       Ace nun schon zahlreiche vergessene Künstlerinnen ausgegraben. „Girls With
       Guitars“ gibt augenzwinkernde Antworten auf heulende Jungs, Songs heißen
       etwa „Destroy That Boy“ und „The Rebel Kind“: In den Songtexten lassen sich
       Frauen nichts gefallen.
       
       Die neueste Ausgabe „Girls With Guitars Gonna Shake!“ verbirgt
       unerschrockene Erwiderungen auf von Männern zugefügten Herzschmerz: The
       Belles interpretieren den [1][Van-Morrison]-Song „Gloria“ unter dem Titel
       „Melvin“ aus weiblicher Perspektive. Die „Hi-Heel Sneakers“ von Tommy
       Tucker werden in der Coverversion von Girls Take Over zu unbeugsamen
       Schuhwerk.
       
       ## Misfits im Bleistiftrock
       
       Anders als bei den Teenagerjungs haben die 25 Songs von Teen-Künstlerinnen
       nicht unbedingt die Garagen-typischen Klangmerkmale wie Billig-Instrumente
       und dilettantische Produktion. Die Interpretinnen sehen schon allein
       optisch aus wie Außenseiterinnen – englisch Misfits. Der Sage nach
       beleidigte ein Brummifahrer im Blackpool der 1960er eine Gruppe von 14- bis
       16-jährigen Mädchen auf diese Weise.
       
       Die ließen sich das aber nicht gefallen und gründeten eine Band: The
       Missfits haben ein zusätzliches s im Namen, tragen ganz unangepasst
       kniebedeckende Bleistiftröcke, weiße Blusen, an denen der oberste Knopf
       offen ist, und geföhntes Haar.
       
       The Missfits spielten vor allem Rhythm-&-Blues-Coverversionen und
       mindestens zwei Gigs pro Woche. Ihr Demo haben sie beim Majorlabel Decca in
       London aufgenommen und kamen damit sogar auf Seite eins der Zeitung Daily
       Mirror.
       
       Half allerdings nichts, es gab keinen Plattenvertrag und das Demotape
       schien verschollen. Es war jedoch sicher aufbewahrt unter dem Bett von
       Schlagzeugerin Janet Bailey und so finden drei unveröffentlichte Songs nun,
       60 Jahre später, ihren Weg zu Mick Patrick, der zuständig für die „Girls
       With Guitars“-Anthologien ist.
       
       ## Pubertierende Interpretationen
       
       Die Coverversionen von „You Can’t Judge a Book by the Cover“ (Bo Diddley),
       „I’m Talking About You“ (Chuck Berry) und „Dimples“ (John Lee Hooker) sind
       wahrlich heavy. The Missfits verneigen sich damit vor den Pionieren des
       Schwarzen US-Rock-’n’-Roll und Blues in schöner Beatpop-Manier und geben
       den Originalen durch ihre pubertierende Interpretation als weiße Britinnen
       auch etwas zurück.
       
       Das Klischee besagt, dass Mädchen und Frauen fleißiger und gewissenhafter
       sind. So unsäglich überholt das klingt, beim Anhören von „Girls With
       Guitars Gonna Shake!“ stellt man fest: Die Künstlerinnen beherrschen ihre
       Instrumente und können singen. Damit geht leider das verloren, was bei
       „Teenage Shutdown“ so überraschend war. Der trashige Song, die schlechte
       Aufnahme, das rudimentäre Mucken. Man darf dabei nicht vergessen, dass es
       weitaus mehr Jungs-Bands gab und diese schlicht mehr Material aufgenommen
       haben. Zeitgenössische Künstlerinnen können dennoch wegweisende
       Rollenbilder sein.
       
       31 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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