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       # taz.de -- Ukrainische Autorin über Russland: „Sprache ist verräterisch“
       
       > Die ukrainische Autorin Oksana Sabuschko spricht über ihre „längste
       > Buchtour“ und Putins Ressourcenimperium. Die Opposition in Russland werde
       > übersehen.
       
   IMG Bild: Das Jahr 2008 war für die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko ein Wendepunkt
       
       Mitte Dezember 2022, später Vormittag. Oksana Sabuschko kommt etwas zu spät
       in die Lobby ihres Hotels in der Nähe des Kurfürstendamms in Berlin
       gerauscht. Die ukrainische Schriftstellerin entschuldigt sich, sie habe
       bereits Termine am Morgen gehabt. Für einige Veranstaltungen ist sie nach
       Berlin gekommen, dann will sie nach Polen weiterreisen. Sabuschko scherzt
       zunächst mit der Fotografin herum, setzt sich schließlich an einen Tisch,
       vor ihr bloß ein Glas Leitungswasser, und antwortet ausführlich, lebendig
       und gestenreich auf die Fragen des Interviewers.
       
       wochentaz: Frau Sabuschko, am 23. Februar 2022 wollten Sie aus Kyjiw
       eigentlich nur für zwei Veranstaltungen nach Polen reisen. Weil Sie nach
       Beginn des russischen Angriffskriegs nicht zurückkonnten, reisen Sie nun
       gezwungenermaßen durch Westeuropa. Konnten Sie Ihre Heimat in der
       Zwischenzeit wieder besuchen? 
       
       Oksana Sabuschko: Im August war ich für kurze Zeit zu Hause in Kyjiw. Seit
       September bin ich wieder unterwegs. Diesen Herbst sind elf neue Bücher von
       mir in den EU-Ländern erschienen. Das Hin- und Herreisen ist nach der
       russischen Invasion nicht mehr möglich, weil der zivile Flugverkehr
       ausgesetzt ist. Deshalb hat sich mein Leben zu einer andauernden Buchtour
       entwickelt. Mein Computer und Google haben mich neulich über meine
       Aufenthalte in diesem Jahr informiert. Es kam eine Meldung: „Herzlichen
       Glückwunsch. Sie haben dieses Jahr 21 Länder und 93 Städte besucht.“ Oh
       shit, dachte ich.
       
       Wo werden Sie in der nächsten Zeit bleiben? 
       
       Eigentlich wollte ich Weihnachten nach Hause fahren. Aber ich muss eine
       Reihe von Texten schreiben – und in einer Stadt, wo ständig der Strom
       ausfällt, kann ich das nicht. Aber ich sollte mich nicht beschweren, mein
       Haus ist bislang nicht zerstört worden. Trotzdem bin ich gewaltsam aus
       meiner Heimat vertrieben worden. Jetzt werde ich erst mal in Wrocław leben.
       [1][Olga Tokarczuk] hat dort eine Stiftung und eine Wohnung, wo ich den
       Blackout-Winter verbringen kann. Wir sind befreundet.
       
       Sie haben kürzlich bei einer Veranstaltung den Angriff auf die ukrainischen
       Kraftwerke mit dem [2][Holodomor verglichen. Kann man diesmal von einem
       „Tod durch Erfrieren“ statt von einem „Tod durch Hunger“] sprechen? 
       
       Es geht weniger um das Erfrieren. Die Ukraine ist nicht Sibirien, die
       Winter sind nicht viel kälter als in Berlin. Und es gibt genug Generatoren
       in der Ukraine. Man kann sie jetzt auf Flohmärkten in jeder ukrainischen
       Stadt kaufen, das sind oft handgefertigte und unzertifizierte Generatoren,
       die die Ukrainer*innen nutzen, um sich warmzuhalten. Aber wegen der
       vielen Blackouts sterben trotzdem Menschen. Was ist, wenn der Strom gerade
       dann ausfällt, während ein Patient bei einem lebensnotwendigen Eingriff auf
       dem Operationstisch liegt? Oder wenn es einen Blackout während einer
       Entbindung gibt? Es ist kein direkter Mord, der da geschieht, aber ein
       indirekter. Vor allem aber ist es psychologischer Terror gegenüber der
       Zivilbevölkerung, der darauf abzielt, ihren moralischen Widerstand zu
       brechen. Das meinte ich in erster Linie mit der Parallele zum Holodomor.
       
       Sie nehmen derzeit an vielen Panels in Westeuropa teil. Wie beurteilen Sie
       heute die westliche Sicht auf den russischen Krieg in der Ukraine? 
       
       Der 24. Februar war ein böses Erwachen für ganz Europa. Ich würde aber
       nicht von einer universellen westlichen Haltung sprechen, nicht einmal von
       einer universellen europäischen Haltung. Jedes Land hat einen eigenen Blick
       auf diesen Krieg, je nach dem, wie die ökonomischen und politischen
       Abhängigkeiten sind und wie die Geschichte des Landes verlaufen ist. Für
       mich erleben wir das Ende einer Belle Époque. Das zeichnete sich allerdings
       schon 2008 ab.
       
       Mit dem Georgienkrieg? 
       
       Ja. Ich muss dazu sagen: Ich bin keine Politikwissenschaftlerin, ich blicke
       mit meinem geisteswissenschaftlichen und philosophischen Background auf die
       Politik Russlands – und ich vertraue meiner Schriftstellernase. Wie jeder
       ernstzunehmende Schriftsteller merke ich es, wenn Dinge in der Luft liegen.
       2008 war so ein Wendepunkt. Den 8. August 2008, als Russland Georgien
       angriff, sollten wir genauso im Gedächtnis behalten wie den 24. Februar
       2022. In der Ukraine haben viele damals schon begriffen, was dieser Angriff
       bedeutet. „Heute Tbilissi, morgen Kyjiw“, war seinerzeit ein geflügeltes
       Wort. Inzwischen müsste man sagen: „Heute Kyjiw, morgen Warschau oder
       Vilnius“.
       
       Der Westen hat 2008 geschlafen? 
       
       Ja. Der Georgienkrieg wurde wie ein seltsamer lokaler Konflikt
       wahrgenommen. Einer, von denen es Hunderte gibt auf diesem Planeten. Oder
       aber die Region wurde abgetan als ein Gebiet „natürlichen russischen
       Einflusses“, womit man Putins Narrativ stützte. Wissen Sie, was mich
       ankotzt? Viele Leute nennen diese Länder immer noch „ehemalige
       Sowjetrepubliken“. Mehr als dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch der
       Sowjetunion! Es gibt auch gebildete Menschen, die noch vom „Ostblock“
       sprechen. Sprache ist da verräterisch.
       
       Blicken wir auf Russland. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass in Russland
       niemals ein Stand von Citoyens, eine Zivilgesellschaft entstanden sei. Wenn
       man das zu Ende denkt, geht die Hoffnung auf eine innerrussische Revolution
       gegen null. 
       
       Der größte Fehler ist, darauf zu hoffen, dass es den Leuten irgendwann so
       schlecht geht, dass sie gar nicht anders können, als gegen das Regime
       aufzubegehren. Ja, den Menschen geht es elendig. Aber das macht sie
       leichter empfänglich für den Hass, der verbreitet wird. Mit den
       Technologien der Hasserzeugung waren Putin und der russische Staat in den
       vergangenen 20 Jahren sehr erfolgreich. In den (sozialen) Medien wird
       Gewalt und Militarismus gepredigt und gepriesen, die Folge ist ein
       regelrechter Kriegskult.
       
       Also muss Putin sich nicht fürchten? 
       
       Die Gefahr liegt eher darin, dass russische Soldaten desertieren und die
       Waffen bei sich behalten. Wenn Militärs mit Waffen zurückkehren, könnte es
       einen „Bellum omnium contra omnes“ („Krieg aller gegen alle“ bei Thomas
       Hobbes, d. Red.) geben. Ich glaube sogar, dass das unvermeidlich ist. Auf
       Selbstorganisation sollte man nicht hoffen. Hannah Arendt hat in „Elemente
       und Ursprünge totaler Herrschaft“ gut beschrieben, was der beste Nährboden
       für Totalitarismus ist: Es ist die Gesellschaft der Einsamen, die
       atomisierte Gesellschaft. Russland ist eine sehr kranke Gesellschaft.
       Demokratisierung von unten zu erwarten, wäre sehr naiv. Das ist ungefähr
       so, als würde man erwarten, dass der Krebspatient nach der vierten
       Chemotherapie die Olympischen Spiele gewinnen wird.
       
       Sie klingen manchmal so, als existiere überhaupt keine Opposition in
       Russland. 
       
       Es gibt sie, aber oft hat man sie übersehen. Hoffnung haben mir die
       Proteste der ethnischen Minderheiten in einigen Regionen gemacht. Zum
       Beispiel die vom Westen weitgehend ignorierten Proteste in Baschkortostan
       und Tatarstan 2017 oder die Proteste der Frauen in Jakutien gegen den Krieg
       und den Genozid kürzlich im September. Frauen haben traditionelle Tänze
       aufgeführt und auf diese Weise protestiert. Solche Dinge interessieren
       mich, ich liebe die bunte und vielfältige Welt. Den ethnischen Minderheiten
       sollten wir viel mehr Aufmerksamkeit schenken. Das Putin-Regime verheizt
       derweil gezielt potenziell widerständige Männer aus minoritären ethnischen
       Gruppen im Ukrainekrieg. Das ist Kalkül. So kann man zwei Fliegen mit einer
       Klappe schlagen.
       
       Was bedeuten all Ihre finsteren Hypothesen geopolitisch? 
       
       Immerhin hat der größte Teil der Welt begriffen, dass Russland eine
       Bedrohung für den gesamten Planeten darstellt. Ich hätte mich gefreut, wenn
       all die Klimaaktivist:innen jetzt auch mal über das verseuchte
       Schwarze Meer und die toten Delfine gesprochen hätten. Über die Ökologie in
       Russland sprechen die Wenigsten. Jedes Jahr brennt die Taiga, jedes Jahr
       verschwinden Millionen Hektar Wald. Russland ist als Ressourcenimperium
       aufgebaut. Es basiert auf der Annahme, dass die Ressourcen unerschöpflich
       sind.
       
       Dieser Glaube ist ungebrochen seit Sowjetzeiten? 
       
       Ja. Inklusive menschlicher Ressourcen. Wenn zu viele Soldaten getötet
       werden, produzieren die Frauen eben mehr Kinder, hat Stalin gesagt. Putin
       hat sogar den im Sowjetreich etablierten Titel der „Mutterheldin“ wieder
       eingeführt für Frauen, die zehn Kinder und mehr zur Welt bringen.
       
       Haben Sie eigentlich Kontakt zu russischen Oppositionellen? 
       
       Ich bin im Austausch mit meiner russischen Übersetzerin. Durch sie habe ich
       verstanden, wie es ist, sich schuldig zu fühlen für die Verbrechen gegen
       die Menschlichkeit, die von dem eigenen Land ausgehen. Sie hat schon 2014
       zu mir gesagt: „Wir sind alle Komplizen.“
       
       Viele ukrainische Autor:innen setzen sich nicht mehr auf eine Bühne mit
       russischen Autor:innen. Wie stehen Sie dazu? 
       
       Ich finde es politisch auch nicht richtig. Wenn man in einer westlichen
       Stadt mit russischen Autoren auf der Bühne steht, dreht sich das Gespräch
       unweigerlich um Russland und nicht um die Ukraine. Vieles fokussiert sich
       auf Russland, seit Jahrzehnten wird über die Entwicklung dort gesprochen,
       während die Ukraine kulturell immer noch der „unsichtbare Mann Europas“
       bleibt. Wir sind nicht gleichgestellt. Jetzt sollte das Mikrofon den
       Ukrainern gehören. Die meisten guten russischen Schriftsteller befinden
       sich in der inneren Emigration, ähnlich wie die oppositionellen deutschen
       Schriftsteller während der Nazizeit. Aber die Zeit ist noch nicht gekommen,
       um mein Pendant zu Albert Camus’ „Brief an einen deutschen Freund“ zu
       schreiben, während ukrainische Schriftsteller in den von Russland besetzten
       Gebieten gefoltert und getötet werden, nur weil sie Ukrainer sind.
       
       Was halten Sie von einem Boykott russischer Literatur? 
       
       Da muss man schon differenzieren. Ich habe im Frühjahr einen Artikel
       darüber geschrieben, wie die meiste kanonische russische Literatur von
       Tolstoi und Dostojewski bis zu Solschenizyn und Brodsky das imperiale
       russische Denken unterstützt und reproduziert hat. Und wie sie im Westen
       bis heute missverstanden wird. Ich bin aber der Meinung, dass man sie
       gerade deshalb lesen sollte: um solche Irrtümer zu begreifen.
       
       Frau Sabuschko, haben Sie im Moment Hoffnung, dass [3][Ihre „längste
       Buchtour“] zu Ende geht? 
       
       Ich hoffe auf den Frühling.
       
       Ist diese Hoffnung realistisch? 
       
       Ja.
       
       7 Jan 2023
       
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