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       # taz.de -- Autofahren als Freiheitsversprechen: Stets auf Achse
       
       > Die Mutter unseres Autors war immerzu Automobilistin. Sie lebt nun im
       > Heim und ihr Sohn reist am Steuer ihres letzten Wagens zurück in die
       > Vergangenheit.
       
   IMG Bild: „Hermann“ an der Tankstelle
       
       Da steht der Nissan Almera Tino, der letzte Wagen meiner Mutter,
       Erstzulassung 2004, 163.000 Kilometer auf dem Tacho, das uncoolste Auto der
       Welt. Bevor ich einsteige, gehe ich noch einmal um den Wagen herum, wische
       die dünne Schneeschicht von den Scheiben, zupfe ein paar Blätter herunter.
       Es ist ein dunkler, kalter Wintertag, und der Wagen scheint zu frieren. Wir
       brauchen ihn nicht wirklich, manchmal steht er wochenlang nur herum.
       
       Herrmann nennt meine Mutter den Wagen. Alle ihre Autos hießen Herrmann.
       Warum ausgerechnet dieser Name, weiß niemand, sie auch nicht. Vielleicht
       nur eine Augenblickslaune, die sich im Sprachgebrauch festgesetzt hat.
       Jedenfalls gab es nie einen Mann dieses Namens in ihrem Leben.
       
       Der Wagen hat erkennbar einiges mitgemacht. So wie meine Mutter auch, denke
       ich manchmal. Die hintere Stoßstange ist schief. An beiden Seiten gibt es
       Kratzer. Beim Einparken vor der kleinen Wohnung, in der sie zuletzt lebte,
       bevor sie ins Heim gezogen ist, muss sie immer wieder an der Steinmauer
       entlanggeschrammt sein, die den Parkplatz begrenzte.
       
       Sie wollte unbedingt, dass der Wagen in der Familie bleibt. Das war ihr
       wichtig. Sie hat keine Ruhe gegeben, bis ich zugestimmt habe, das Auto zu
       übernehmen.
       
       Wenn ich sie in ihrem Heim besuche, fragt sie jedes Mal: „Fährt Herrmann
       noch?“ Ich sage: „Ja, Mama, der fährt noch.“ Sie freut sich dann immer
       sehr.
       
       Ich steige ein. Der Motor springt mit beruhigender Selbstverständlichkeit
       an. Das tat er nicht immer. Zweimal hat er mich im Stich gelassen. Ein
       neuer Anlasser und eine neue Batterie waren fällig, seitdem ist alles gut.
       
       ## Nie auf einem Fahrrad
       
       Ein Radfahrer fährt dick eingepackt an dem Wagen vorbei, dann stoße ich aus
       der Parklücke.
       
       Der TÜV ist im Januar fällig. Also fahre ich von Berlin nach Kiel, um
       meinen Bruder zu treffen. Er kennt sich mit Autos sehr viel besser aus als
       ich und will sich den Wagen genau ansehen. Ob er überhaupt noch einmal
       durch den TÜV kommen kann. Ob es sich überhaupt noch lohnt. Außerdem
       besuche ich in Kiel auch meine Mutter.
       
       Meine Mutter ist viel Auto gefahren. Nie habe ich sie auf einem Fahrrad
       gesehen, nie in einem Bus, ganz selten in einem Zug, und ihre Flugreisen
       lassen sich an einer Hand abzählen. Doch das Auto, das gehörte zu ihrem
       Leben.
       
       Sie war eine gute Autofahrerin, immer gewesen. Sie wurde souverän, wenn sie
       Auto fuhr. Es gab keinen Augenblick, in dem ich mich nicht sicher fühlte,
       wenn ich auf dem Beifahrersitz oder Rücksitz saß und sie gefahren ist.
       
       Doch irgendwann ging es nicht mehr. Vor drei Jahren meldete sie sich ein
       bisschen kleinlaut von ihrem Handy bei meiner Schwester. Sie stand irgendwo
       im Norden Kiels und wusste weder, wo sie war, noch wie sie da hingekommen
       war. Die Augen. Die Demenz. Da war spätestens klar, dass etwas geschehen
       musste. Ein weiterer Abschied war fällig. Von unserem Einfamilienhaus hatte
       sie sich längst verabschiedet, zuletzt von der großen Wohnung. In die
       kleine Wohnung passten viele Möbelstücke nicht. Ihr Leben wurde enger. Und
       jetzt der Wagen. Es fiel ihr schwer.
       
       Sie ist nicht mehr dieselbe, seit sie nicht mehr Auto fährt. Aber auch
       schon vorher war sie nicht mehr dieselbe.
       
       Während ich in Richtung Stadtautobahn fahre, frage ich mich, wie sich für
       sie die letzten Fahrten in diesem Wagen angefühlt haben mögen. Der Wagen,
       konkret dieser Wagen, in dem ich jetzt sitze, hat Normalität ausgestrahlt
       und dass sie ihr Leben noch im Griff hat.
       
       Da sind noch die Münzen, die meine Mutter in der kleinen Ablage links über
       dem Steuerrad für die Parkuhr aufbewahrt hat. Da ist die Handbremse mit dem
       Knopf an der Spitze, den sie manchmal während der Fahrt ohne Anlass
       gedrückt hat. Da ist, allerdings inzwischen etwas ramponiert, auch noch der
       50 Jahre alte Stoffhase mit der grünen Hose, der schon bei Mutter immer
       mitgefahren ist. Alles noch da. Nur meine Mutter sitzt nicht mehr auf dem
       Fahrersitz und wird es auch nie mehr tun.
       
       Ihren Führerschein hat meine Mutter am 19. April 1963 gemacht, an ihrem 23.
       Geburtstag. Da war sie seit fünf Monaten mit meinem Vater verheiratet, und
       mit mir war sie schwanger. Als Autofahrerin hat sie mein Leben also seit
       jeher begleitet, schon bevor ich überhaupt geboren wurde.
       
       Bei der Führerscheinprüfung war sie aufgeregt. Denn schwangere Frauen
       durften damals nicht zur Fahrstunde, und so hat sie ihre Schwangerschaft
       dem Fahrlehrer verschwiegen und gehofft, dass er ihr nichts anmerkt. Hat er
       auch nicht.
       
       Speck hieß der Fahrlehrer. Wie sah er aus, habe ich sie einmal gefragt.
       „Ach, das war so ein Dicker.“ Und was für ein Wagen war das? „Den damals
       alle hatten. So ein Volkswagen.“ Ein Käfer? „Ja, ein Käfer.“
       
       Sie lachte, als sie mir das erzählt hat. Manches am Langzeitgedächtnis
       funktioniert weiterhin gut. Das sind Erinnerungen, die sich gegen die
       Demenz durchsetzen können.
       
       Emanzipiertheit ist nicht das erste Wort, das mir für meine Mutter
       einfallen würde. In vielen Einstellungen ist sie traditionell, in manchen
       auch reaktionär. Als ich das erste Mal [1][Johanna Haarers] furchtbares
       Säuglingspflegebuch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ las, musste
       ich an meine Mutter denken. Abstand wahren, nicht mit Gefühlen an die Sache
       herangehen, so war das halt damals.
       
       „Mutter war nicht von dieser Gesellschaft. Ich glaube, sie war aus dem
       Krieg“, heißt es in der Erzählung „Muttersterben“ des Schriftstellers
       Michael Lentz. Ein Kriegskind ist auch meine Mutter, 1940 wurde sie
       geboren. Ein Abstand zu allem, auch zu uns Kindern, und eine prinzipielle
       Lebensunsicherheit sind in ihr drin.
       
       Doch von der bestandenen Führerscheinprüfung aus ließe sich auch leicht
       eine Emanzipationsgeschichte erzählen.
       
       Es war die späte Boomerzeit. Manche Ruinen des Krieges standen noch, noch
       immer gab es Seilschaften der Nazis. 1963 war aber auch das Jahr, in dem
       der allererste James Bond in den deutschen Kinos anlief, „James Bond jagt
       Dr. No“. Weltweit kreischten die Teenager zu „Yeah, yeah, yeah“, John F.
       Kennedy verkündete vom Schöneberger Rathaus „Isch bin ein Berlinär“ (und
       wurde im November desselben Jahres erschossen). Genau in diese
       Modernisierung hinein fuhr meine Mutter mit dem Auto.
       
       Die Regelung, [2][dass Frauen für den Führerschein die Genehmigung ihrer
       Ehemänner brauchten, hatte bis 1958 gegolten.] Auch fünf Jahre später war
       es alles andere als selbstverständlich, dass Frauen Auto fuhren. In ihrer
       Familie war meine Mutter überhaupt die erste Frau, die den Führerschein
       gemacht hat. Weder ihre Mutter, meine Oma Hanna, noch ihre Tante, meine
       Großtante Lottchen, konnten Auto fahren. „Die hatten nach der Flucht ja
       auch gar kein Geld“, meinte meine Mutter einmal.
       
       Zur bestandenen Fahrprüfung hat mein Vater ihr mit einer launigen
       Glückwunschkarte „für den frischgebackenen Autofahrer“ gratuliert. Auf der
       Rückseite standen halb ernst gemeinte Ratschläge bei Unfällen. „1. Niemals
       eine Schuld zugeben. Das Gericht wird darüber später befinden. 2. Nett sein
       zur Gegenpartei. Wenn Alkohol greifbar, dann einen Drink anbieten …“
       
       Dazu hat mein Vater mit rotem Kugelschreiber in seiner großen Schrift
       geschrieben: „Liebevoll und sicher durch unsere Welt. Dein Karlheinz!“ Und
       auf die Rückseite: „Meine liebe Inna! Die allerherzlichsten Glückwünsche
       zum bestandenen ‚Führerschein‘! Lenke uns“
       
       Die drei Ausrufezeichen in dem kurzen Text deuten darauf hin, dass die
       Prüfung auch von ihm wichtig genommen worden ist. In „Lenke uns“ lese ich
       einen Pakt zwischen ihnen hinein.
       
       Wir sind ein Team, drückt es für mich aus. Und im Subtext: Ich weiß, dass
       ich bei dir nicht den Patriarchen spielen kann.
       
       Selbstverständlich war das nicht. Es war eine Ehe unter Ungleichen, und
       zuerst muss meine Mutter auch skeptisch gewesen sein. Mein Vater war 21
       Jahre älter als sie. Er hatte schon drei Ehen hinter sich und fünf Kinder,
       sein ältester Sohn ist gerade einmal ein Jahr jünger als meine Mutter. Sie
       hatte sich gerade von ihrem ersten Mann getrennt. Die Ehe war kurz, sie hat
       nie drüber geredet. Mein Vater, selbst gerade frisch geschieden, war ihr
       Scheidungsanwalt. Ihm fehlte der linke Arm, er war ihm im Zweiten Weltkrieg
       amputiert worden.
       
       In dieser Situation war ihm offenbar klar, dass er ihr etwas bieten musste.
       Und neben dem Schmuck, den er ihr schenkte, war ein solches Zeichen: der
       Führerschein.
       
       Was sie ihm im Gegenzug bot, war auch klar. Einen Neuanfang. Einen
       ernsthaften zweiten Anlauf in ein geordnetes Leben. Und Kinder. Sie gebar
       uns, vier Geschwister in fünfeinhalb Jahren. Das war ihr Deal.
       
       Und der Neuanfang ging sich gut an. Als ich zwei Jahre alt war, sind meine
       Eltern mit mir auf dem Rücksitz nach Venedig gefahren.
       
       Aus den Erzählungen meiner Mutter weiß ich, dass ich mir hinten im Wagen
       einen runden Schlauch auf den Kopf gesetzt und gesagt habe „Ich bin ein
       Tönig“ (das K konnte ich noch nicht artikulieren). Und ich habe eine vage
       Erinnerung an ein offenes Feuer und ein Stück heißes Glas an einem langen
       Stil, das sich verformt und ausdehnt. Meine Eltern haben mit mir in Venedig
       eine traditionelle Glasbläserei besucht.
       
       Vielleicht sind es Erinnerungen wie diese, weshalb ich eine besondere
       Beziehung zu dem letzten Wagen meiner Mutter habe.
       
       ***
       
       Ich fahre durch die Leere Brandenburgs. Meilenweit Felder und
       Kiefernwälder, die winterkahlen Bäume filigran mit Schnee und Eis betupft.
       Irgendwann Windkraftanlagen, bei den größten ragen die Rotorblätter bis in
       die tief liegenden Wolken hinein.
       
       Eigentlich ein guter Augenblick, um ein paar Lieblingssongs zu hören. Doch
       die Musikanlage funktioniert nicht richtig. Und als ich im letzten Urlaub
       dieses eine Mal mit dem Wagen in einer Waschanlage war, habe ich vergessen,
       die Dachantenne des Autos abzumontieren. Seitdem geht auch das Radio nicht
       mehr.
       
       Der Verkehr hält sich im Rahmen. Ich denke an Kinder und Autos, meine
       Eltern und die – von heute aus gesehen – so seltsam unnormale Normalität
       der frühen Jahre der alten Bundesrepublik.
       
       Der 1955 geborene Journalist Thomas E. Schmidt hat darüber ein paar Absätze
       in seinem gerade erschienenen Buch [3][„Große Erwartungen. Die Boomer, die
       Bundesrepublik und ich“] geschrieben. Über sich selbst als eines der
       „Wonnekinder des Neuanfangs“ schreibt er: „Wir waren die lebendigen Beweise
       einer Stetigkeit des Lebens. Das Leben sollte nicht abreißen, und es riss
       nicht ab.“
       
       Die Boomer, die sich mit Händen und Füßen an die Normalität ihrer Jugend
       klammern, an den ewig währenden Fortschritt etwa, an Winnetou-Geschichten
       und bergeweise Fleisch, sind längst zum Klischee geronnen. Doch Thomas E.
       Schmidt macht deutlich, wie heikel und seltsam diese viel gepriesene
       Normalität damals war. Wie ausschließend sie gewesen ist, weiß man
       inzwischen auch.
       
       Zum Autoverkehr schreibt Schmidt: „Autos, der Stolz der militärischen
       Ent-Mobilisierung und einer neuen, zivilen Mobilität, spielten eine große
       Rolle, weil sie den Jungen die ersten verständlichen Zeichen waren, mit
       denen die Erwachsenen ihre Unterschiede und ihren Status markierten.“
       
       Tatsächlich ist es heute wohl kaum nachvollziehbar, wie neu und
       verheißungsvoll das Autofahren damals gewesen sein muss. Die Nazis mögen
       die Autobahnen gebaut haben, ein Auto konnten sich die meisten Menschen
       aber erst nach dem Krieg leisten. Und auch die kulturelle Überhöhung fand
       erst noch statt. Jack Kerouac schrieb „On the road“ 1957.
       
       Wenn ich im Zusammenhang mit dem letzten Wagen meiner Mutter an Begriffe
       wie Status und Besitzstolz denke, muss ich ein bisschen lachen. Statusmäßig
       ist mit ihm rein gar nichts zu holen. Wie sauber und neu im Gegensatz zu
       ihm die meisten Wagen auf einer deutschen Autobahn aussehen!
       
       Und auch damals schon haben meine Eltern die Statusmarkierungen nicht voll
       mitgemacht. Meine Mutter fuhr den Familienwagen, einen [4][VW Variant 412],
       einen Kombi. Mein Vater einen weißen Karman Ghia, Sportwagenkarosserie,
       aber mit VW-Käfer-Motor. Schon ganz cool, aber eben auch nicht der Porsche,
       den er wohl gern gehabt hätte und den meine Mutter ihm ausgeredet hat.
       
       Zum Neuanfang meiner Eltern gehörte es auch, in einen Vorort zu ziehen, ins
       Grüne. Das war 1969. Spätestens von da an war ein Auto wirklich wichtig.
       Die Fahrten zur Rechtsanwaltspraxis meines Vaters, die Einkäufe, die
       Ausflüge und Familienbesuche – ein Auto zu haben, gehörte zu diesem
       Lebensentwurf dazu.
       
       Vielmehr, das Auto war zentral. Und ist es auch immer noch. Wenn ich heute
       durch den Vorort gehe, in den wir damals gezogen sind, staune ich darüber,
       wie vernachlässigt und lieblos die Bürgersteige in dieser doch wohlhabenden
       Gemeinde wirken. Dafür hat jedes Haus mindestens eine eigene Garage,
       Zufußgehen ist nicht vorgesehen.
       
       Meine Eltern lebten also ihren privaten Traum und die gesellschaftliche
       Norm zugleich: arbeiten in der Innenstadt, wohnen im Vorort oder in
       Trabantenstädten am Stadtrand. Damit einhergehend wurden die Straßen
       ausgebaut, Umgehungsstraßen geplant, Neubaugebiete auf die Wiese gesetzt,
       die Zersiedelung der Landschaft nahm Tempo auf. Und so, wie ich mir ihre
       letzten Autofahrten vorstelle, frage ich mich auch manchmal, wie ihre
       ersten Fahrten wohl gewesen sein mögen.
       
       Die Straßen waren noch sehr viel leerer als heute. 1965 waren 9,3 Millionen
       Pkw in Westdeutschland zugelassen. Gegenüber fast 50 Millionen in
       Gesamtdeutschland heute.
       
       Die Autos waren auch noch viel kleiner. Der erste Wagen meiner Mutter, der
       VW Variant, galt damals als großer Wagen. Heute würde er hinter einem neuen
       Golf geradezu verschwinden. Die Fahrzeuge hatten auch viel weniger PS.
       Servolenkung, ABS, das alles gab es noch nicht. Autofahren war ein viel
       körperlicherer Vorgang als heute. Beim Einparken musste man ganz schön am
       Lenkrad kurbeln.
       
       Außerdem war das Autofahren, ganz objektiv gesehen, viel gefährlicher als
       heute. 1971 gab es 21.000 Tote im Straßenverkehr, heute sind wir bei einem
       Zehntel davon. Die Anschnallpflicht wurde erst 1976 eingeführt, unter
       großen Protesten. Kindersitze sind erst seit 1991 obligatorisch. Die
       Promillegrenze lag 1966 bei 1,3 Promille.
       
       Aber bei meiner Mutter im Wagen habe ich mich immer sicher gefühlt. Sie mag
       mich nie in den Arm genommen haben, ich konnte auch nie meine Sorgen und
       Probleme ernsthaft mit ihr besprechen, aber am Steuer unseres Autos wurde
       sie zur sorgenden Mutter.
       
       An eine Autofahrt erinnere ich mich noch genau. Ich war damals fünf Jahre
       alt und meine Eltern ließen das gerade gekaufte Einfamilienhaus nach ihren
       Vorstellungen umbauen. Auf der Baustelle habe ich neugierig an einer
       abgestellten Flasche Bier genippt. Dass in der Flasche auch eine Wespe
       schwamm, bemerkte ich nicht. Ich schluckte, sie stach mich in den Rachen.
       
       Große Aufregung. Doch bei meiner Mutter im Auto, die mich sofort in die
       Notaufnahme fuhr, beruhigte ich mich. Auch in so einer Stresssituation muss
       sie ruhig und routiniert gefahren sein, zügig und gleitend im Verkehr,
       souverän im Umgang mit dem Wagen.
       
       Dieses „Es kann dir nichts passieren“-Gefühl, dieses „Du musst keine Angst
       haben“-Gefühl. Das muss sie mir auf dieser Fahrt vermittelt haben. Man hat
       als Kind sorgfältig eingestellte Antennen dafür.
       
       Meine Mutter hat uns auch manchmal zur Schule gefahren oder von ihr
       abgeholt.
       
       Ich erinnere mich an Fahrten, bei denen fünf, sechs oder sogar sieben
       Mitschüler bei uns einstiegen. Im Variant konnten wir uns ja auch auf der
       Ladefläche hinter den Rücksitz kauern. Angeschnallt war niemand. Diese
       Fahrten waren bei uns Zehn-, Elf-, Zwölfjährigen selbstverständlich mit
       einigem vorpubertären Geschrei verbunden. Es muss ein Heidenlärm im Auto
       geherrscht haben. Und auch bei diesen Fahrten verlor meine Mutter nicht die
       Ruhe.
       
       Ich erinnere mich noch daran, dass ich auf solchen Fahrten heimlich stolz
       auf sie war. Wie unsere dummen Sprüche und Angebereien kurz in den
       Hintergrund gerieten und ich nur sie sah: meine Mutter mit dem langen
       schwarzen Haar und der großen Sonnenbrille. Vielleicht habe ich sie in
       solchen Momenten auch mit den anderen Autofahrern verglichen, die ich
       kannte. Dabei schnitt sie gut ab. Mein Onkel Harald fuhr sehr hektisch,
       immer abwechselnd Vollgas und Vollbremsung und mit dem Oberkörper weit nach
       vorne, direkt über das Lenkrad gebeugt.
       
       Oder Großonkel Herbert, der auf unseren Familienfesten eigentlich nur in
       Sprüchen redete. „Was, fünf Jahre bist du schon? So alt wird kein Schwein“,
       solche Sachen, gefolgt von einem meckernden Lachen. Er traute sich nur, vom
       Dorf, in dem er wohnte, bis zum Stadtrand zu fahren, wo er seinen Wagen
       abstellte und in den Bus zu seinem Büro in der Innenstadt umstieg. Solche
       Form von Ängstlichkeit habe ich bei meiner Mutter nie erlebt.
       
       Nun gut, es gab auch Kindergeburtstage, auf denen einen die Väter der
       Mitschüler im Propellerflugzeug über Kiel herumflogen. Damit konnte meine
       Mutter nicht mithalten. Aber immerhin. Wie sie zugleich aufmerksam und
       entspannt zurückgelehnt auf ihrem Fahrersitz saß, hatte das durchaus etwas
       von einer Pilotin.
       
       ***
       
       Mit dem Auto hat es für meine Mutter nie ernsthafte Unfälle gegeben, in
       ihrem Leben schon. Schwere Unfälle sogar. Totalschäden. Geboren wurde sie
       in Kolberg, an der heute polnischen Ostseeküste. Kolberg – es gab einen
       [5][Durchhaltefilm der Nazis mit Heinrich George und Kristina Söderbaum],
       der so heißt – wurde zur Festung ausgebaut und verteidigt, bis die Rote
       Armee unmittelbar am Hafen stand.
       
       Mit einem der letzten Schiffe floh meine Oma Hanna mit ihren beiden
       Kindern, meiner Mutter und ihrem etwas älteren Halbbruder Peter. Es gibt
       bei uns die Familiengeschichte, dass das Schiff bereits ablegte, als meine
       Mutter noch allein am Kai stand. Ein freundlicher Offizier soll sie im
       letzten Moment über die Reling geworfen haben.
       
       Ob die Geschichte stimmt, weiß ich nicht. Mir kommt sie etwas zu filmisch
       vor, um tatsächlich wahr zu sein; man weiß ja inzwischen, dass subjektive
       Erinnerungen trügerisch sind, weil das menschliche Gedächtnis sich aus
       einem nachträglich konstruierten Bilderfundus gerne bedient. Aber wer weiß.
       
       Als Vertriebene kam die Familie in Schleswig unter. Es war alles sehr eng.
       Mit einer bettlägerigen Großtante teilte sich meine Mutter als Jugendliche
       ein Zimmer. Dann wurde sie erneut aus ihrem Alltag gerissen.
       
       Zu den Dingen, die sie verschickte, bevor die Demenz sie endgültig kriegte,
       gehörte die Kopie eines Fotos, auf dem ein kleiner Pappkoffer an einer
       Mauer steht. „Alles, mein Leben. Musste nach Hannover zu meiner Tante wegen
       Onkel Karl (Säufer)“, hat sie dazugeschrieben.
       
       Das lag spätestens in unserem Einfamilienhaus im Vorort hinter ihr. Und es
       kann gut sein, dass die schiere Verlässlichkeit und Berechenbarkeit eines
       Autos ihrem Leben einen Rahmen und ihr selbst einen Halt gaben, den sie bis
       dahin nicht gehabt hatte.
       
       Du drehst den Zündschlüssel, und der Motor startet. Du trittst auf das
       Gaspedal, und das Auto beschleunigt. Du trittst auf die Bremse, und das
       Auto bremst. Du betätigst den Blinker, und das Auto blinkt. Im Gegensatz
       zum Lauf der Welt ist das alles gut beherrschbar. Es kann gut sein, dass
       Autofahren für sie eine Form von Selbstermächtigung gewesen ist.
       
       Doch zehn Jahre nach der Führerscheinprüfung, 1973, geschah der zweite
       große Lebensunfall, der Krebstod ihres Mannes, meines Vaters.
       Diagnostiziert wurde die Leukämie in dem Jahr, als wir in den Vorort zogen.
       
       Erst fuhr meine Mutter ihn, geschwächt von Medikamenten und aufgeschwemmt
       vom Cortison, wie er war, zu diversen Kuraufenthalten und Kliniken.Dann
       starb er.
       
       Es war der 29. Dezember. Sie war 33 Jahre alt, Witwe, Mutter von vier
       Kindern, und lebte in einem großen Haus inmitten einer Vorortsiedlung, in
       der alle Nachbarn (jedenfalls gefühlt alle) auf heile Familie machten und
       das Kleinfamilienmodell normsetzend war.
       
       Das war natürlich schwierig. Doch im Auto, am Steuer, konnte sich meine
       Mutter als Beherrscherin ihres Lebens begreifen. Was hätte sie getan, wenn
       sie keinen Führerschein gehabt hätte? Sie wäre im Vorort und mit uns
       Kindern (und unserem Großvater väterlicherseits, der bei uns in der
       Souterrainwohnung lebte) gefangen gewesen. Andererseits wäre sie auch nicht
       ständig vom Familienleben weggefahren.
       
       Das tat sie nämlich. Sie war immer auf Achse. Besuchte eine ältere Freundin
       auf Sylt. Kümmerte sich um eine ältere Dame in Grömitz. Kaufte in Büsum ein
       kleines Apartmenthaus und beaufsichtigte die Umbauarbeiten. Auf uns Kinder
       passten halbtags eine Hausangestellte und unser Opa auf.
       
       Wenn ich von heute aus darüber nachdenke, kann ich mir vorstellen, dass sie
       sich die vielen Aufgaben in den verschiedensten Ecken Schleswig-Holsteins
       auch deshalb organisiert hatte, damit sie so ausgiebig Auto fahren konnte.
       Die Stunden, die sie in Herrmann verbrachte, sind für sie vermutlich die
       einzigen Auszeiten gewesen von den Zumutungen und magenumdrehenden
       Verantwortlichkeiten des alleinerziehenden Familienlebens, auf das sie
       nicht vorbereitet war (aber wer ist das schon?). Kann gut sein, dass sie
       die Momente, in denen sie allein im Wagen saß und die Fahrertür zuzog, als
       kleine Befreiungen erlebte.
       
       Etwas ganz anderes, gewissermaßen genau das Gegenteil dieser Fahrten, waren
       die Touren, die meine Mutter mit uns Kindern in den Sommerurlauben
       unternahm. Bevor mein Vater starb, hatten meine Eltern noch eine
       Ferienwohnung in Südspanien, in Torre del Mar, in der Nähe von Malaga
       gekauft. Drei Zimmer im vierten Stock eines zehnstöckigen weißen
       Apartmenthauses, das mit einem Zaun drumherum direkt an den Strand des
       Mittelmeeres gesetzt worden war.
       
       Was waren das für Autofahrten! Wir waren fünf Kinder im Wagen, die Tochter
       unserer Haushälterin, zwei Jahre älter als ich, fuhr auch mit. Hinten auf
       der Ladefläche wurde zwischen Koffern mit Decken und Kissen ein Liegeplatz
       für ein Kind eingerichtet, da hockte dann mein Bruder. Vorn im Auto, unter
       der Haube gab es Stauraum; der Variant hatte den Motor ja hinten. Diesen
       Stauraum packte meine Mutter randvoll mit Gepäck und Verpflegung für sechs
       Wochen. Dosen, H-Milch, eingepacktes Brot, das nahmen wir alles mit; der
       spanischen Versorgungslage traute meine Mutter nicht recht.
       
       Es hat ein ziemlicher Trubel in dem Wagen geherrscht. Dem einen Kind wurde
       schlecht, das andere musste aufs Klo. Dazu Gebalge um die Plätze.
       Langeweile. Geruckel. Zwischendurch gemeinsame Gesänge und Gebrabbel. „Dass
       wir die Kieler sind, / das weiß ein jedes Kind. / Wie reißen Bäume aus, /
       wo keine sind.“ Solche Sachen haben wir gesungen. Dann wieder Gezanke unter
       uns Geschwistern. Es wird, wenn überhaupt, immer nur für einzelne Momente
       still gewesen sein. Und meine Mutter fuhr, mit Unterbrechungen natürlich,
       die ganze Strecke durch.
       
       Bemerkenswert jedenfalls, von heute aus gesehen, wie viel Vertrauen sie in
       ihre Fähigkeiten als Fahrerin hatte. Das war etwas, worauf sie sich immer
       verlassen konnte und auch verlassen hat. Bis die Augen nicht mehr
       mitmachten und die Demenz sie erwischte.
       
       Als wir uns einmal über diese Touren unterhielten, sagte meine Mutter: „Zum
       Glück ist ja alles gutgegangen.“ Mühsam beugte sie sich in ihrem Stuhl nach
       vorne, um auf dem Tisch dreimal auf Holz zu klopfen.
       
       ***
       
       Kurz vor Hamburg geht es von der A24 ab, Richtung Bad Segeberg, dann weiter
       auf der Bundesstraße B404. Die Landschaft ändert sich, kleine Hügel,
       Wälder, Seen. Die Wolken werden massiver, wattiger, meeresluftgesättigter.
       Heimatgefühle kommen auf. Auch wenn ich seit 1987 nicht mehr in
       Schleswig-Holstein lebe, habe ich immer den Eindruck, dass sich mein
       Blutdruck senkt, wenn ich wieder in der Gegend bin.
       
       So ist es normalerweise, doch auf dieser Fahrt ist es anders. Es ist 16
       Uhr, die Dunkelheit scheint das Licht geradezu zu schlucken. Das Fahren
       wird anstrengend. Manche entgegenkommenden Wagen blenden mich, die Scheibe
       ist verschmiert, und die alten Scheibenwischer können sie immer nur für
       einige Minuten sauber halten. Dennoch gehört Autofahren für mich zu einem
       heimatlichen Gefühl, etwas zutiefst Vertrautem, auch wenn es längst nichts
       Selbstverständliches mehr für mich hat. In Berlin fahre ich mit dem
       Fahrrad. Wenn ich doch einmal mit dem Auto fahre – eigentlich nur, wenn die
       Kinder irgendwohin müssen oder wir einen Wochenendausflug unternehmen –,
       stresst mich die danach anstehende Parkplatzsuche sehr. Manchmal muss ich
       eine halbe Stunde herumkurven, bis ich einen finde.
       
       Im vergangenen Herbst bin ich von Berlin nach Frankfurt zur Buchmesse ganz
       allein im Wagen meiner Mutter gefahren, und schon diese Fahrt fühlte sich
       wie ein Abschied an. Es war einerseits großartig. Wie wild und romantisch
       Deutschland um Jena und Eisenach herum aussieht! Doch zugleich fühlte ich
       mich wie ein Dinosaurier des Benzinzeitalters. Was das Autofahren betrifft,
       vermittelt einem unsere Gesellschaft derzeit eine zwiespältige Lage.
       Eigentlich wird immer klarer, dass es so nicht weitergeht und die Hegemonie
       des Verbrennungsmotors zu Ende ist. Und gleichzeitig sind noch nie so viele
       und so große und so leistungsstarke Autos auf den deutschen Straßen
       herumgefahren wie heute.
       
       Die Zeit, in der meine Mutter Auto fuhr, markiert auch gesellschaftlich
       eine Ära, die nun zu Ende geht. Als sie Führerschein machte, wurden Autos
       normal und selbstverständlich. Als sie den Führerschein abgab, hatte die
       Gesellschaft als Ganze längst damit begonnen, Autos zu hinterfragen.
       
       Dabei hielt sich meine Mutter in ihrer Demenz am Autofahren noch so lange
       fest, wie es irgend ging. Es wäre nun ein bisschen billig, das mit den
       kulturellen Abwehrkämpfen der Autofahrerlobby zu parallelisieren. Doch die
       psychische Energie dieser Abwehr meine ich zu verstehen, wenn ich an meine
       Mutter denke. Als sie unsere Sorgen und skeptischen Bemerkungen, ob das
       Autofahren für sie wirklich noch angebracht war, einfach wegwischte, bevor
       sie ihnen endlich nachgab, hatte das immer etwas von Notwehr.
       
       Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bin für Tempo-30-Zonen,
       breite Radwege, Anwohnerparkplätze, all diese Dinge, die das Ende der
       Autoherrschaft über die Städte einläuten. Doch an meiner Mutter kann ich
       auch sehen, was für starke Eingriffe das sind, bis in das Selbstverständnis
       des Menschen hinein.
       
       Die letzte große Autofahrt mit meiner Mutter fand am 8. Juli 1982 statt.
       Ich war damals 18 Jahre alt, trug lange Haare und hatte gerade Abitur
       gemacht. Das Datum weiß ich deshalb noch so genau, weil es der Tag eines
       Jahrhundertspiels war, des Halbfinales zwischen Deutschland und Frankreich
       bei der Fußballweltmeisterschaft in Spanien.
       
       ## Rückfahrt von einem „Bekannten“
       
       Wir waren auf der Rückfahrt von einem „Bekannten“ in München, mit dem sie
       etwas hatte, was man heute als Fernbeziehung bezeichnen würde.
       
       Über die vorausgegangenen Tage redeten wir nicht groß. Wir fuhren einfach.
       
       Um 21 Uhr begann das Halbfinale, wir mussten auf der Autobahn gerade
       irgendwo bei Hannover gewesen sein. Ich schaltete das Radio an. Es war
       wahnsinnig spannend. Ich flehte meine Mutter an, schneller zu fahren, um
       wenigstens noch den Schluss zu Hause am Fernseher sehen zu können.
       
       Mit dem Essayisten Michael Rutschky, auch ein passionierter Autofahrer
       übrigens, habe ich mich einmal darüber unterhalten, welche Beziehung
       psychisch herausfordernder ist, die zum Vater oder die zur Mutter. Von ihm
       habe ich die Theorie, dass die zum Vater zwar möglicherweise
       konfliktreicher, aber psychologisch einfacher ist, weil die Interaktion mit
       ihm (zumindest in meiner Kindheit) erst richtig einsetzt, wenn das Kind
       bereits sprechen, also Erfahrungen auch sprachlich bearbeiten kann, während
       die Beziehung zur Mutter bis zu den allerfrühesten, vorsprachlichen
       Erfahrungen von Geborgenheit und Beschütztsein reicht (oder eben nicht).
       
       Das Leben ist keine Autofahrt. Doch in der Fahrt von München nach Hause
       scheint sich für mich im Nachhinein die Beziehung zwischen meiner Mutter
       und mir geradezu zu bündeln, all das, was wir unternahmen, und auch das,
       was wir versäumten. So eine Fahrt wäre eine gute Gelegenheit gewesen, sich
       einmal auszusprechen, zwischen Mutter und Sohn, Erwartungen auszutauschen,
       Erfahrungen, Gefühle, aber das haben wir eben nicht getan. Sie fuhr, und
       ich war mit den Gedanken woanders, vordergründig bei dem Fußballspiel,
       dahinter auch schon bei meinem Auszug von zu Hause, dem bevorstehenden
       Zivildienst, dem darauf folgenden Studium.
       
       Und gleichzeitig ist das Autofahren so etwas wie ihr Vermächtnis an uns,
       ihre Kinder, sprachlos weitergegeben, ohne Worte, einfach durch ihr Tun. Es
       gibt nicht viele Bereiche, in denen ich mir etwas von ihr abgeschaut habe –
       beim Autofahren habe ich das durchaus: das Ideal des vorausschauenden,
       gleitenden Fahrens, diese allumfassende Aufmerksamkeit, stets zu wissen,
       was hinter und neben einem los ist. Das sanfte Beschleunigen, abruptes
       Abbremsen vermeiden, gleitend kuppeln, gleichmäßig durch die Kurven fahren.
       
       Einmal zeigte sie mir, wie man an einer leichten Steigung stehenbleiben
       kann, ohne auf die Bremse zu steigen, nur unter Verwendung der Kupplung.
       Auch das Anfahren am Berg, Handbremse ziehen, Gas geben, Handbremse im
       richtigen Moment lösen, habe ich von ihr.
       
       Ich will nicht sagen, dass sie gedanklich mit im Wagen saß auf meinen
       großen Touren – immer wieder nach Südfrankreich und Italien, von New York
       einmal quer durch die USA nach Kalifornien, durch die unbefestigten
       Serpentinen des Kaukasus –, die ich als Erwachsener unternahm.
       
       Und doch – ich habe lange geglaubt, dass ich Jack Kerouac hinterherfahre
       oder solchen coolen Typen wie Steve McQueen oder auch Robert DeNiro in
       „Taxi Driver“. Aber ebenso sehr bin ich wohl immer in den Spuren meiner
       Mutter gefahren. Ein Vermächtnis, das allmählich in die Erinnerung
       hinüberwandert, doch immer noch da ist.
       
       Aber vielleicht besteht das eigentliche Vermächtnis auch darin, dass man
       einen eigenen Weg finden muss, um mit dem Leben klarzukommen. Viel Auto zu
       fahren gehörte zu ihrem Weg. Wir, ihre vier Kinder, hatten jeweils andere
       Wege. Gelenkt hat sie ihre Autos. Nicht uns.
       
       Von München aus fuhr sie uns beide damals gerade noch rechtzeitig nach
       Hause und ich saß pünktlich zur Verlängerung vor dem Fernsehgerät. Ein paar
       Monate später machte ich selbst meinen Führerschein.
       
       ***
       
       Ich stelle den letzten Wagen meiner Mutter auf dem Parkplatz ab. Ein
       Pflegeheim am Stadtrand.
       
       Zuerst erkennt sie mich nicht. Erst als sie meine Stimme hört, weiß sie,
       wer ich bin.
       
       Wir sitzen in ihrem Zimmer und reden.
       
       „Bist du mit dem Wagen gekommen?“
       
       „Ja.“
       
       „Hatte der nicht einen Namen?“
       
       „Weißt du ihn noch?“
       
       „Hieß der nicht Herrmann?“
       
       „Genau.“
       
       „Warum eigentlich? Wer ist denn auf den Namen gekommen?“
       
       „Ich weiß es nicht, Mama.“
       
       „Ich auch nicht.“
       
       „Fährt Herrmann noch?“
       
       „Wie eine Eins.“
       
       „Wie lange hast du gebraucht?“
       
       „Vier Stunden, von Berlin aus, oder bisschen länger, viereinhalb.“
       
       „Berlin?“
       
       „Ich wohne jetzt in Berlin.“
       
       „Ach ja, und wo sind wir?“
       
       „In Kiel.“
       
       „Ach ja.“
       
       „Willst du ganz gern mal wieder Auto fahren, Mama?“
       
       „Schon.“
       
       „Weißt du noch, wie es geht?“
       
       „Das weiß ich noch.“ Etwas blitzt in ihren Augen auf. „Manchmal habe ich
       den Gedanken, mir einen Mietwagen zu nehmen, aber, ach Quatsch, das werde
       ich bestimmt nicht.“
       
       Das Blitzen ist wieder aus ihrem Gesicht verschwunden. Dann geht das
       Gespräch von vorne los.
       
       Nachdem mein Bruder sich den Wagen gründlich angesehen hat, meint er, das
       Auto komme ziemlich sicher noch einmal über den TÜV, so viel sei da gar
       nicht zu machen, und die Dellen und Beulen interessieren den TÜV ja gar
       nicht.
       
       Okay, denke ich, es ist ein Abschied auf Raten.
       
       8 Jan 2023
       
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