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       # taz.de -- Tagebuch aus Lützerath (6): Es gibt Wichtigeres als Schlaf
       
       > Zwischen Plenum, Küfa und Lagerfeuer am Abend. Für manche der
       > Aktivist:innen ist das hier „Urlaub vom Kapitalismus“
       
   IMG Bild: Ein Umweltaktivist sitzt in der Nähe eines Bergwerks
       
       „Da hinten geht’s ab.“ So klingt die morgendliche Begrüßung, die hier nicht
       ungewöhnlich ist und uns doch aus dem Schlaf schreckt. Aktivist:innen
       stehen vor einer Reihe Security-Mitarbeiter:innen. Was genau da immer
       passiert, ist oft gar nicht so leicht zu sagen. Aber das meiste lässt sich
       auf einen allgemeingültigen Grund zurückführen. RWE und die Polizei wollen
       weiter vor, die Aktivist:innen wollen das nicht. Wir können bei so was
       nicht gut aus der Ferne zuschauen. Egal, wie fest wir gerade noch
       geschlafen haben. Tage, an denen man auch mal länger schlafen kann, gibt es
       hier nicht. Tagesstunden, um den in der Nacht versäumten Schlaf
       nachzuholen, auch nicht so recht. Es gibt eben immer Wichtigeres.
       
       Lützerath ist ein besetztes Dorf. Es soll wie bereits unzählige andere
       abgebaggert werden, damit der Energiekonzern RWE seinen Braunkohletagebau
       Garzweiler II expandieren und die circa 280 Millionen Tonnen Kohle unter
       Lützerath verfeuern kann. Klimaaktivist:innen haben diesem Vorhaben
       den Kampf angesagt, sind in die von den ehemaligen Bewohner:innen
       verlassenen Häuser eingezogen, haben in den Bäumen Baumhäuser und auf den
       Straßen Sperrmüllblockaden gebaut.
       
       Seit fast zehn Tagen sind wir hier, und immer wieder erinnern wir uns an
       einen Satz, den man uns sagte, als wir in dieses Dorf zogen: „Ich habe das
       Gefühl, die meisten Journalist:innen interessieren sich mehr für dieses
       aufregende Leben hier als für die Klimakrise.“
       
       Täglich treffen sich die Aktivist:innen zum Plenum. Dort werden zum
       Beispiel so Fragen besprochen wie, wer in der „Küfa“, der Küche für alle,
       oder bei Handwerksarbeiten hilft. Jemand, mit dem wir abends oft am Feuer
       saßen, nannte das Ganze „Urlaub vom Kapitalismus“. Vielleicht geht es hier
       nicht nur um Lützerath und die Klimapolitik der Regierung. Sondern um das
       alles, diese Utopie und ja, dieses aufregende Leben. An Silvester tanzten
       alle in einer riesigen Halle, abseits des riesigen RWE-Baggers, der dies
       alles bald beenden würde. Zwar wurde in den folgenden Tagen immer wieder
       über die Räumung gesprochen, aber was das eigentlich bedeuten soll, können
       wir uns immer noch nicht richtig vorstellen.
       
       ## Alle Tage fühlen sich wie Wochen an
       
       Frühestens ab dem 10. Januar, sagt die Polizei. Aber jeder fürchtet, dass
       die Räumung eher beginnt. Seit Tagen geht das so: Das Tagebauvorfeld vorm
       Dorf wird immer größer. Auf diesem erinnern Bürger:innen aus dem Umland
       zusammen mit den Aktivist:innen noch einmal daran, warum sie hier sind.
       Vor diesem Bagger, der fast so groß wirkt wie Lützerath.
       
       „Diese Maschine zerstört auch eure Zukunft“, ruft jemand. Später werden
       dann die Aufgaben für die nächsten Tage verteilt. Manche bauen Barrikaden,
       manche halten Wache, andere spülen die Teller des Abendessens.
       
       Vorhin saßen wir stundenlang in einer Scheune und haben uns geärgert, bald
       aufstehen zu müssen. Aber irgendwann zwingt einen immer jemand, einen Ort
       zu verlassen. Genau dann rollte jemand seinen Schlafsack aus und legte sich
       ein paar Meter von uns entfernt zum Schlafen hin, in einer anderen Ecke
       wurde irgendetwas zusammengezimmert.
       
       Alle Tage hier fühlen sich an wie Wochen. Die Luft ist so dick, man kann
       sie beinahe schon sehen. Faszinierend, dass in dieser Stimmung noch so viel
       Raum ist, an Lagerfeuern stundenlang zu reden, über unsere Vorstellungen
       von Klimagerechtigkeit, politischem Wandel und vom guten Leben für alle.
       Doch natürlich provoziert ein Ort wie dieser mit einem politischen
       Konflikt, der konkreter nicht sein könnte, auch den ein oder anderen
       Austausch darüber, wie es dazu kam und was danach sein wird.
       
       6 Jan 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Aron Boks
   DIR Annika Reiß
       
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