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       # taz.de -- Debatte um die Silvesternacht: Sozialisation raus aus der Tabuzone
       
       > Nach Ausschreitungen zu Silvester warnen die einen vor jungen Männern,
       > die anderen vor Rassismus. Besser wäre, offen miteinander zu reden.
       
   IMG Bild: Blick aus einem Berliner Balkon an Silvester
       
       Es ist paradox: Migration ist eines der wichtigsten gesellschaftlichen
       Themen in Deutschland. Aber wenn es mal schwierig wird, wie jetzt bei den
       Silvesterkrawallen nicht nur in Berlin-Neukölln, an denen junge Männer mit
       Einwanderungsgeschichte doch ziemlich deutlich beteiligt waren, dominiert
       das Reiz-Reaktions-Schema, das vernünftige Debatten erstickt.
       
       Jens Spahn von der CDU spricht per Ferndiagnose von „ungeregelter
       Migration“ und „gescheiterter Integration“. Antirassismus-Aktivisten sehen
       rassistische Hetze, wenn man die Herkunft von Tatverdächtigen nennt. Und
       die Integrationsbeauftragten der Republik warnen vor Stigmatisierung und
       sehen soziale Ursachen für die Gewaltexzesse. [1][Die Raketenschießer], die
       frustrierten Abgehängten.
       
       Es ist der klassische linke Erklärungsansatz: Das Materielle, die soziale
       Lage erklärt Verhalten. Marxistisch gesprochen: Das Sein bestimmt das
       Bewusstsein. Natürlich gibt es handfeste Ursachen für Gewalt, schon zigfach
       durchdekliniert. Der Anteil von Sozialleistungsempfängern in den
       betroffenen Wohnvierteln ist hoch und damit [2][die Perspektivlosigkeit].
       Der Anteil von Schulabbrechern ist ebenso hoch, was ein Dauer-Skandal ist
       und wogegen der Staat viel mehr tun könnte. Wer in der Schule scheitert,
       häuft Frust an.
       
       Der Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani beklagt zu Recht seit Jahren, dass
       ausgerechnet in den Vierteln, in denen die besten Schulen nötig wären, oft
       [3][die schlechtesten Schulen] liegen. Und ja, ein Syrer hat auf dem
       Wohnungsmarkt weniger Chancen als eine Isländerin. Man nennt es Rassismus.
       
       Aber reicht das an Erklärungen? Muss man zwingend Silvesterraketen als
       Schusswaffen gegen Menschen nutzen, weil die Eltern von Hartz IV leben?
       Andere Faktoren, wie kulturelle Prägungen oder die Sozialisation durch
       Herkunft, sind eine Tabuzone in Deutschland, eben weil es leicht ins
       Ressentiment abrutschen kann. Das ist bedauerlich, denn die
       Migrationsforschung ist schon längst viel weiter. Natürlich prägt Herkunft.
       Aber Herkunft ist kein starres Korsett.
       
       Ein konkretes Beispiel: Die Schreckschusspistolen, die massenhaft zum
       Einsatz kamen. Warum schießen manche arabisch- oder türkischstämmige junge
       Männer an Silvester gern mit Schreckschusswaffen herum? Weil in ihren
       Herkunftsländern oder in den Herkunftsländern ihrer Eltern Männer auf
       Hochzeiten gern Schüsse abgeben, oft auch aus scharfen Waffen. Das zu
       benennen, ist nicht Rassismus, sondern Sozialanthropologie. In
       Schwedisch-Lappland gilt man bis heute erst dann als so richtig männlich,
       wenn man einen Elch erlegt hat. Das kann man aus mitteleuropäischer
       Perspektive als ebenso bizarr bezeichnen.
       
       Das enge Männlichkeitsbild, das in Berlin-Neukölln oder
       Hamburg-Wilhelmsburg zu sehen ist, steht in einen seltsamen Kontrast zu
       sich auffächernden Männlichkeitsbildern insgesamt. Es dürfte einen
       Zusammenhang geben zwischen einem „Loser“-Dasein (so die Neuköllner
       Integrationsbeauftragte Güner Balci) und dem Drang, auf der Straße den
       Macker herauszukehren. Umgekehrt gesagt: Wer auf irgendetwas persönlich
       Geleistetes stolz sein kann, hat es nicht nötig, sich durch Raketenschüsse
       auf Passanten mal richtig böse und bedeutend zu fühlen. Soziale Lage und
       Prägung gehen hier zusammen.
       
       Die Erziehung in muslimischen Familien ist autoritärer, es geht mehr ums
       Gehorchen, schreibt der Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak seit Jahren
       (dass es in nicht-muslimischen Familien autoritärer zugehen kann als in
       manchen muslimischen Familien, ändert nichts an der Tendenz). Jungs haben
       aber gleichzeitig – anders als Mädchen – viel mehr Freiheiten. Toprak und
       seine Kollegin Katja Nowacki schreiben [4][in einer Studie für das
       Bundesfamilienministerium]: „Insgesamt besteht in vielen Familien ein
       inkohärenter Erziehungsstil, der einerseits (…) aus Disziplinarmaßnahmen
       wie Schlägen besteht, andererseits die männlichen Jugendlichen bereits früh
       auf eine dominante Rolle vorbereitet, was zu einer Überforderung führen
       kann.“
       
       Was tun? Helfen könnte, sich von dem bleischweren Dinosaurierwort
       „Integration“ zu lösen. Es geht erst einmal um geschriebene und
       ungeschriebene Regeln, die sich eine Einwanderergesellschaft gibt.
       Miteinander statt übereinander zu reden wäre hilfreich – und nicht nur
       dann, wenn es spektakuläre Bilder aus Neukölln gibt.
       
       Der Faktor Sozialisation muss endlich aus der Tabuzone geholt werden, damit
       er nicht weiter rassistisch missbraucht werden kann à la „der Araber ist
       eben so“. Nur was nüchtern und auf Augenhöhe benannt wird, kann geändert
       werden. Und dabei sollte auch die Frage gestellt werden, ob es so viel Sinn
       ergibt, althergebrachte Geschlechterrollen in einer neuen Gesellschaft, in
       der man lebt, zu konservieren.
       
       7 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Gewalt-von-Jugendlichen/!5904025
   DIR [2] /Integrationsdebatte-nach-Silvester/!5903491
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   DIR [4] https://www.bmfsfj.de/resource/blob/74636/98ae887759a6e22eef9eff0cead54454/gewaltphaenomene-maennliche-muslimischen-jugendliche-data.pdf
       
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   DIR Gunnar Hinck
       
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       Zick.