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       # taz.de -- Streetworker zu Silvesterrandalen in Berlin: „Aus Ohnmacht wird dann Macht“
       
       > Jugendliche randalieren, weil sie sozial ausgegrenzt werden, sagt Ralf
       > Gilb von Outreach. Mehr Jugendarbeit, keine härteren Strafen, sei die
       > Lösung.
       
   IMG Bild: Bambule gibt es meist da, wo es Armut gibt
       
       taz: Herr Gilb, in der Silvesternacht ist viel gefeiert und geböllert
       worden, an einigen Orten kam es zu heftigen Attacken auf Polizei- und
       Rettungskräfte. Wie haben Sie die Nacht erlebt? 
       
       Ralf Gilb: Auseinandersetzungen mit der Polizei gibt es an Silvester ja
       schon seit Jahrzehnten, gerade auch in Neukölln. Aber ich muss schon sagen:
       Die Qualität hat in einigen Gegenden noch einmal zugenommen. Vor einigen
       Jahren wurden in der High-Deck-Siedlung, [1][wo dieses Jahr auch ein
       Reisebus ausgebrannt ist], schon einmal Löschfahrzeuge beschossen. Aber das
       Ausmaß, in dem jetzt Rettungssanitäter und Feuerwehr attackiert wurden, das
       ist schon bedenklich. Dass gar kein Unterschied mehr gemacht wird, dass
       jede Uniform den Staat verkörpert, den es zu bekämpfen gilt.
       
       Sagen Ihnen die Jugendlichen das so, dass sie den Staat bekämpfen wollen? 
       
       Natürlich nicht genau so. Das sind ja keine Autonomen, die politisch
       motivierte Taten begehen. In der Situation ist das Entscheidende der Spaß
       und eine gewisse Gruppendynamik. Aber wenn man fragt, was dahintersteckt,
       woher der Frust kommt, der zu Gewalt führt, dann kommt das schon heraus.
       
       Die Videos der Ausschreitungen kommen überwiegend aus sozialen Brennpunkten
       in Neukölln. Welche Rolle spielt der soziale Hintergrund der Jugendlichen,
       die randaliert haben? 
       
       Es ist einfach so, dass die große Bambule meist in den abhängten Quartieren
       ist. Die Jugendlichen, die dort wohnen, sind von großer individueller und
       struktureller Benachteiligung betroffen. Es gibt da sehr viel Frust, Armut,
       Perspektivlosigkeit. Längst nicht nur unter den Jugendlichen. In der weißen
       Siedlung in Neukölln zum Beispiel, ich weiß da von alten Leuten, die leben
       im zehnten Stock, aber der Aufzug ist seit einem Vierteljahr kaputt. Es
       interessiert sich kein Mensch für diese Viertel. Bei den Jugendlichen kommt
       noch der Frust über die Pandemie dazu. Die Einschränkungen haben ja die
       Jugend am härtesten getroffen.
       
       Was konkret erzählen denn die Jugendlichen, die Sie begleiten? 
       
       Viele sagen klar, dass sie es scheiße finden, wenn Sanitäter:innen
       beschossen werden. Gegen die Polizei ist okay, aber gegen Rettungswägen ist
       blöd, so der Tenor. Wer dann aber wirklich dabei war, ist natürlich nochmal
       eine andere Frage. Der Gruppendynamik, die sich da entfaltet, schließen
       sich ja nicht nur migrantische Jugendliche an. An der Schillerpromenade zum
       Beispiel waren auch Hipster dabei.
       
       Was ist diese Gruppendynamik, von der sie sprechen? 
       
       Im geschützten Raum der großen Gruppe kann sich der ganze angestaute Frust
       entladen. Da entwickelt sich eine Dynamik, die immer mehr Menschen
       teilnehmen lässt. Das Gefühl breitet sich aus: „Wir überlassen den Bullen
       nicht unser Quartier.“ Da, wo vorher Ohnmacht war, ist dann ein Gefühl von
       Macht. Dazu kommt dann noch das Phänomen der sozialen Medien: dass viele
       nur danebenstehen und filmen – aber auch nicht einschreiten. Es sind ja
       immer nur Einzelne, die wirklich einen Feuerlöscher schmeißen, ein Großteil
       der Jugendlichen macht so was nicht.
       
       Von politisch rechter Seite war schnell klar: Das Problem sind migrantische
       Jugendliche. 
       
       Es ist ja nichts Neues, dass solche Vorfälle von rechts instrumentalisiert
       werden. Die Rechten verdrehen Ursache und Wirkung. Die Jugendlichen, die ja
       häufig wirklich einen Migrationshintergrund haben, sind ihr ganzes Leben
       von Rassismus betroffen. Viele haben schlechte Erfahrung mit einigen
       Beschäftigten der Polizei gemacht. In solchen Momenten entladen sich
       Ausgrenzungserfahrungen: mangelnde Chancen, mangelnde Teilhabe, das Gefühl,
       abgehängt zu sein. Das ist das eigentliche Problem – und eine
       gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
       
       Was sollte die Politik tun? 
       
       Es ist klar, dass wir das jetzt sagen, aber: mehr Jugendarbeit. In der
       Silvesternacht vor etwa 20 Jahren gab es schon einmal heftige
       Ausschreitungen in der Bürknerstraße. Mehrere hundert Fensterscheiben sind
       da eingeschossen worden. Damals gab es massive Polizeieinsätze im
       Nachklapp, Bürgerinitiativen haben sich gebildet, aber nichts hat was
       gebracht. Ganz am Ende hat das Jugendamt Neukölln die soziale Arbeit
       eingeschaltet. Durch gruppenorientierte Jugendsozialarbeit, zusammen mit
       der Community, konnten wir das Problem lösen. Ein Jahr später ist keine
       einzige Scheibe zerbrochen.
       
       Was war Ihr Ansatz? 
       
       Wir haben uns genau angesehen, was da los war. Da gab es zum Beispiel eine
       Bank, wo sich die Jugendgruppen getroffen haben, die haben wir erst einmal
       entfernen lassen. Das war in der Situation wichtig, um das destruktive
       Gruppengefüge aufzubrechen, was sich da gebildet hatte. Im nächsten Schritt
       haben wir dann Kontakt zu den Eltern und der Nachbarschaft aufgenommen, sie
       informiert, was die Jugendlichen für einen Scheiß machen. In so einer
       Situation muss man die Community mit ins Boot nehmen. Unsere Kolleg:innen,
       die Eltern, die Nachbarschaft haben den Jungen dann klargemacht: So geht es
       nicht.
       
       Die Lösung lautet also: Mehr Jugendarbeit? 
       
       Ja, ganz wichtig ist es, auch mit den Jungs selbst zu reden, sie anzuhören.
       Und ihnen klar zu sagen: „Stellt euch vor, dein Geschwisterkind schläft in
       der Wohnung, dann fliegt eine Rakete in das Zimmer und es brennt. Die Bude
       fackelt ab. Aber die Feuerwehr kommt nicht durch, weil Ihr den Krankenwagen
       beschießt. Fändet ihr das gut?“ Auf so etwas reagieren die Jugendlichen
       eigentlich sehr positiv.
       
       Aber alle wird man so nicht von solchen Aktionen abhalten können, oder?
       [2][Viele rufen jetzt nach Strafverschärfungen]. 
       
       Wo Straftaten begangen werden, muss der Staat auch reagieren, auch um den
       Jugendlichen Grenzen aufzuzeigen. Das ist wichtig, gerade auch für
       geflüchtete Jugendliche, die noch nicht wissen, wo diese Grenzen liegen.
       Soziale Arbeit kann präventiv einiges bewirken, aber auch nie alles, das
       stimmt. Das bisherige Strafmaß reicht aber klar aus. Viel wichtiger ist,
       dass die Bestrafung auf dem Fuße folgen muss. Viele bauen Mist und landen
       dann sechs Monate oder ein Jahr später vor Gericht. Die wissen gar nicht
       mehr, für was sie eigentlich bestraft werden. Hier anzusetzen, wäre
       wesentlich hilfreicher.
       
       4 Jan 2023
       
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