URI: 
       # taz.de -- Start ins neue Jahr: Vorsätze sind für Systemopfer
       
       > Viele Menschen wollen im neuen Jahr etwas besser machen. Als kritischer
       > Kolumnist kann man nur sagen: alles Selbstbetrug für Achtsamkeitsheinis.
       
   IMG Bild: Zehn statt drei Mal den Wecker wegdrücken
       
       Haben Sie Neujahrsvorsätze? Ich nicht. Weil Neujahrsvorsätze ein
       neoliberaler Scheiß für Systemopfer sind. Weil ich ein reflektierter,
       aufgeklärter, kritischer Linker bin und von meinen Freund:innen (auch
       alles reflektierte, aufgeklärte, kritische Linke) so gesehen werden möchte.
       Neujahrsvorsätze sind voll [1][Selbstoptimierungswahn] und wir sind schon
       optimal, zumindest was unsere Haltung zu Neujahrsvorsätzen angeht. Wir
       machen nicht mit bei diesem kapitalistischen Arbeiten am Selbst. Für uns
       ist Arbeit sowieso nicht mehr so wichtig. Wir definieren uns nicht über
       sie. Wir machen nur das, was notwendig ist, und dann machen wir [2][andere
       schöne Dinge].
       
       Natürlich möchte auch ich mit dem Rauchen aufhören, mehr lesen, mehr Sport
       treiben. Aber vor allem möchte ich mich nicht stressen lassen. Deshalb
       verbiete ich mir Neujahrsvorsätze. Und wenn ich doch schwach werde und mich
       gegen einen Vorsatz nicht wehren kann, dann darf das zumindest keiner
       erfahren. Es muss niemand mitbekommen, wie ich mir etwas vornehme, das ich
       schon am zweiten Tag des neuen Jahres wieder aufgebe.
       
       Zum Glück helfen mir die äußeren Umstände, stark zu bleiben. Ich kann
       verstehen, wenn ältere Generationen das faul, lethargisch, lustlos oder
       depressiv finden. Die Welt war vor 30 Jahren bestimmt auch
       vielversprechender – oder konnte zumindest die Illusion davon
       aufrechterhalten. Heute lautet das einzige verlässliche Versprechen, dass
       es nicht besser wird. Das Gute an der schlechten Gegenwart ist, dass sie
       auch den optimistischsten Selbstbetrügern falsche Hoffnungen verunmöglicht.
       Zum Glück. [3][Denn nur wer nicht hofft, kann nicht enttäuscht werden].
       
       Dass Neujahrsvorsätze uncool sind, erfahre ich nicht nur in meinem
       reflektierten, aufgeklärten, kritischen Umfeld, in dem sie tabuisiert sind
       wie politisch unkorrekte Witze, sondern auch in den sozialen Medien: unter
       betont lässigen, bewusst unvorteilhaft aufgenommenen Fotos erklären User,
       warum Neujahrsvorsätze voll der Quatsch sind.
       
       ## Neue Morgenroutine: Horrornews lesen und drei Kaffee
       
       Wir sind zwar alle lost. Aber die Achtsamkeitsheinis, die auf der anderen
       Seite der Timeline-Front kämpfen und sich für das neue Jahr ganz viel
       vorgenommen haben, sind viel loster. Weil ich sie nicht ausstehen kann,
       mache ich doch eine Ausnahme: Ich nehme mir für 2023 vor, noch unachtsamer
       zu leben als bisher. Entscheidend dafür ist, wie der Tag beginnt. Ich werde
       den Wecker im neuen Jahr also zehn statt bisher drei Mal wegdrücken, als
       allererstes noch im Bett das Smartphone in die Hand nehmen, im Halbschlaf
       ein paar Horrornachrichten überfliegen und dann stumpf drei Tassen Kaffee
       in mich reinschütten statt gesund zu frühstücken.
       
       Als endlich 2023 anfing, haben meine Freund:innen und ich uns dann doch
       ein gutes neues Jahr gewünscht. Aber halt so gelangweilt wie möglich.
       Irgendwas muss man ja sagen, auch wenn man kein Systemopfer ist. Natürlich
       umarmen wir uns nicht.
       
       6 Jan 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Gluecklichsein-um-jeden-Preis-auf-Arte/!5874903
   DIR [2] /Homeoffice-an-der-Adria/!5891894
   DIR [3] /Poebelmanie/!5905761
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Volkan Ağar
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumne Postprolet
   DIR Neujahr
   DIR Hoffnung
   DIR Selbstoptimierung
   DIR Silvester
   DIR Silvester
   DIR Kolumne Postprolet
   DIR Kolumne Postprolet
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Podcast-Guide
   DIR Homeoffice
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR In und Out in 2025: Mal schauen, was wird
       
       Zum Jahreswechsel dominieren In- und Out-Listen die sozialen Medien. Nun
       wagt auch die taz den Blick in die Glaskugel für das Jahr 2025.
       
   DIR Wiederholung akzeptieren: Neues Jahr, gleicher Film
       
       Das Ende des Jahres ist dazu da, Vorsätze zu formulieren, um sie einige
       Wochen später zu brechen. Unser Autor widmet dieses Jahr den
       Wiederholungen.
       
   DIR Flüge günstig buchen: Grenzerfahrung Preisvergleichsportal
       
       Wenn unsere Existenz schon auf das Kaufen und Verkaufen von Waren reduziert
       wird, möchte unser Autor wenigstens das beste Geschäft machen. Doch die
       Flugsuchmaschine zockt ihn ab.
       
   DIR Essen gehen früher und heute: Supermarkt nur noch mit Hemd
       
       Restaurantbesuche gab es in der Kindheit unseres Autors nicht. Heute kostet
       ein Einkauf so viel wie vor der Krise ein netter Ausflug in die Pizzeria.
       
   DIR Pöbelmanie: Gefangen im Klassenkampf
       
       ​Die Erwartungen an das neue Jahr sind riesig, aber solange die
       Produktionsverhältnisse so sind wie sie sind, wird es kaum besser werden.
       
   DIR Podcast über Italien: Mehr als Dolce Vita
       
       In „Kurz Gesagt: Italien“ räumt Sebastian Heinrich mit Stereotypen über
       Italien auf. Er erklärt, warum das Land mehr ist als Pizza, Pasta und
       Urlaub.
       
   DIR Homeoffice an der Adria: Endlich Workation
       
       Warum Regen, wenn's anderswo noch schön ist? Unser Autor darf endlich von
       seinem liebsten Ort aus arbeiten – und hätte damit gar nicht mehr
       gerechnet.